Nationalsozialismus und Geschlecht: eine Einführung [chapter]

Nationalsozialismus und Geschlecht  
Das Thema ›Nationalsozialismus und Geschlecht‹ eröffnet eine Vielzahl an Bedeutungsebenen, Bildern und Diskussionen. Der nationalsozialistischen Rassenideologie lagen essentialistische Männlichkeits-und Weiblichkeitsbilder zugrunde. Antisemitische Klischees, aber auch Idealisierungen des »arischen Körpers« wurden häufi g über Geschlechterbilder verhandelt. 1 Neben Ideologie und Bilderpolitik blieben auch die Lebensverhältnisse im »Dritten Reich« von der Kategorie Geschlecht nicht unbeeinfl
more » ... Die Handlungsräume von Männern und Frauen unter dem Regime waren verschieden. Darüber hinaus wird die Erinnerung an den Nationalsozialismus maßgeblich über Geschlechterbilder strukturiert. 2 In die allgemeine historiografi sche und mediale Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit haben diese Aspekte durchaus Eingang gefunden. Doch bei genauerer Betrachtung ist der Bezug auf die Kategorie Geschlecht nur marginal und durchsetzt von Klischees: In der Mainstreamforschung zum »Dritten Reich« werden die Ergebnisse der Frauen-und Geschlechterforschung kaum berücksichtigt. Anstatt die Kategorie Geschlecht bei der Analyse heranzuziehen, wird meist ein undifferenzierter Blick auf die Stellung von ›Frauen im Dritten Reich‹ geworfen, 3 wodurch nicht nur Frauen mit ›Geschlecht‹ gleichgesetzt werden, sondern auch die 1 | Vgl. hierzu: A. G. Gender-Killer (Hg.): Antisemitismus und Geschlecht. Von »maskulinisierten Jüdinnen«, »effeminierten Juden« und anderen Geschlechterbildern, Münster: Unrast 2005. 2 | Insa Eschebach/Sigrid Jacobeit/Silke Wenk (Hg.): Gedächtnis und Geschlecht. Deutungsmuster in Darstellungen des nationalsozialistischen Genozids, Frankfurt/Main, New York: Campus 2002. 3 | Mit Frauen sind im Folgenden deutsche nichtjüdische Frauen gemeint. Die Einstellung der Nationalsozialisten gegenüber jüdischen Frauen war -daran kann kein Zweifel bestehendurchweg diffamierend. Die diffusen Vorstellungen, die im deutschen Faschismus von ›der jüdischen Frau‹ herrschten, bedürften darum einer gesonderten Betrachtung. 10 | ELKE FRIETSCH/CHRISTINA HERKOMMER vielfältigen Zusammenhänge der nationalsozialistischen Ideologie mit Weiblichkeits-und Männlichkeitskonstruktionen unberücksichtigt bleiben. Gemeinhin wird davon ausgegangen, dass die Nationalsozialisten frauenverachtend gewesen seien und ein einheitliches Bild von ›der Frau‹ gehabt hätten. Weniger eindeutig ist die Vorstellung davon, welche Einstellung deutsche nicht verfolgte Frauen selbst gegenüber dem Nationalsozialismus gehabt haben. Hier sind zwei divergierende Ansichten maßgeblich: zum einen die Annahme, die gesamte weibliche Bevölkerung sei Opfer des nationalsozialistischen Regimes gewesen, zum anderen die These einer spezifi sch weiblichen Täterschaft. Diese gegensätzlichen Meinungen sind irritierend, denn zwischen Opfer-und Täterschaft liegtzumindest im juristischen Sinne -ein weites Feld. Die feministische Forschung hat seit ihrer Entstehung in den 1970er Jahren diese divergierenden und irritierenden Auffassungen zur Rolle von Frauen im Nationalsozialismus versucht sichtbar zu machen, zu kritisieren und zu analysieren und mit vielen Klischees aufzuräumen. Dennoch lassen sich auch hier vereinzelt ›blinde Flecken‹ erkennen, die zumindest eine Zeit lang dazu geführt haben, dass auch die Frauen-und Geschlechterforschung in ihren Analysen zum NS-Herrschaftssystem bisweilen dichotomen Bildern der Rollen von Männern und Frauen und Annahmen eines generellen ›weiblichen Opferstatus‹ oder einer spezifi sch ›weiblichen Täterschaft‹ folgte. Mittlerweile liegen aus dem Bereich der feministischen Theorie jedoch zahlreiche historische, kulturwissenschaftliche und soziologische Studien vor, die belegen, dass das dichotome Schema der Opfer-oder Täterschaft von deutschen nichtverfolgten Frauen im »Dritten Reich« zu kurz greift. 4 Auch die meisten Klischees zur Rolle der weiblichen Bevölkerung im Nationalsozialismus sind widerlegt. Frauen gingen demnach in ihrer überwiegenden Mehrheit weder ausschließlich in der Mutterrolle auf, 5 noch waren sie weniger berufstätig als vor 1933, 6 noch haben sie den Nationalsozialisten mehr Wählerstimmen gegeben als der männliche Teil der Bevölkerung. 7 Die Handlungsräume von Frauen waren komplex. Die weibliche Bevölkerung teilte sich im Nationalsozialismus, wie Gisela Bock in 4 | Einen guten Überblick bietet der Sammelband
doi:10.14361/9783839408544-intro fatcat:yy22s4jegbddzfwb5jpsnjsjam