Ueber Wehenschwäche und ihre Behandlung

W. Freund
1908 Deutsche Medizinische Wochenschrift  
Darf ich mir die Leser dieser hochgeschätzten Wochenschrift als Zuhörer denken, so möchte ich meine Vorlesung mît einer Frage anheben. Was würden zu der Aufforderung, über Stuhlträgheit, schwachen Puls, über Hinken, über Sehschwäche zu schreiben, die Herren Mediziner sagen? Dies sind alles Symptome, die wir bei den wohlbearbeiteten und bekannten Krankheiten der betroffenen Organe besprechen werden. Der Interne würde z. B. für die Behandlung der Stuhlträgheit die Hypoplasie der Darmmuskulatur,
more » ... ankheiten der Mucosa mit Affektion der Darmnerven, Striktur des Darmes, Narben, chronische Peritonitis, Leiden des Zentralnervensystems, Intoxikation, z. B. durch Blei, Krankheiten der Bauchmuskulatur, schließlich Verwöhnung durch willkürliche Stuhiverhaltung als Aetiologie und als Richtschnur für die Behandlung angeben. Eine solche Antwort kann der Gynäkologebei der Aufforderung, über Wehenschwäche zu schreiben, nicht geben. Die Unsicherheit in der Aufstellung scharfer klinischer Bilder zwingt den Gynäkologen, an vielen Stellen mit losen Symptomenlomplexen zu hantieren. Die Wehenschwäche kann sich wohl auf don ersten Blick als hauptsäohliches Symptom während der Geburt bemerklich machen, wird aber ganz sicher wie jede bedeutsame Funktionsstörung sich als Glied einer organisch zusammenhängenden Kette von Erscheinungen einfügen und einen wesentlichen Zug in einem klinischen Bilde darstellen. Erst für einzelne Affektionen ist es gelungen, die pathologisch-anatomischen Tatsachen und die Krankheitserscheinungen in umfassende, scharf umschriebene klinische Krankheitsbilder zusammenzufassen, so unter anderm in das des Infantilismus. Ich halte es für das Verständnis der folgenden Darstellung für angebracht, dieses Bild, wie es sich mir in jahrzehntelanger Beobachtung gestaltet und abgerundet hat und das neuerdings mehrfach beschrieben worden ist, hier als Paradigma für anderweitige klinische Bearbeitungen vorzuführen. In diesem Bilde gibt auch der Symptomenkomplex der Wehenschwäche einen wesentlichen Zug ab. In früheren Arbeiten, speziell in einer aus dem Jahre 1888, über die Indikation zur Behandlung der erkrankten Tuben" habe ich das in-D PAUL B.RNER r,., . fantilistische Weib in folgender Zeichnung dargestellt. Ein solches Weib zeigt in seinem ganzen Organismus einen bestimmten Habitus, gekennzeichnet durch eine schwache, S-förmig gebogene Wirbelsäule, in der oberen Apertur stenosierten Thorax; schwach geneigtes, allgemein verengtes Becken; Plattfuß; dürftige Brustdrüsen mit flachen oder eingezogenen Warzen; wenig vorspringenden mons Venons; die von den Oberschenkeln kaum verdeckte Vulva, deren platte, schmale Labia majora die minora und die Clitoris nicht verdecken; durch flache, hängende Natos; eine eñge, in niedriges, wenig dehnbares Laquear posterius endigende, an den Columnen nicht selten die Andeutungen von Zweiteilung tragende Vagina; durch den meist vorn übergebeugten Uterus, dessen Cervix zwischen der hakenförmig nach vorn umgebogenen vorderen und der längeren kahnförmigen hinteren Lippe einen verengten, bogenförmigen Kanal mit nach vorn oben schauendem Muttermunde birgt, dessen kleines Corpus mit stark konvexer, dicker, hinterer und konkaver, dünnerer, vorderer Wand und oft leicht bogenförmig eingesenktem Fundus die scharf vorn oben vorspringenden, spiralig gedrehten Tubenanfänge trägt und die weitbogigen, äußerst dünnen Ligamenta rotunda entsendet; durch die länglich ausgezogenen, dem hinteren Blatte des Ligamentum latum häufig zu kurz aufsitzenden, hochliegenden Ovarien; durch die tief abwärtsreichende Douglastasehe; durch die zylindrische, oft in einen Urachuskanal nach oben auslaufende Blase; durch das enge Rectum; durch eine nicht selten nachweisbare Hypeplasie des Herzens mit dem mehr oder weniger offen gebliebenen Foramen ovale und der engen, dünnwandigen Aorta; verschieden starken Thymusrest, kleinen, mehr senkrecht gestellten Magen; langen Processus vermiformis mit weiter Eingangspforte. Gelappte Nieren, gewisse kindliche Merkmale am Schädel vervollständigen in exquisit ausgebildeten Fällen das klinische und anatomische Bild. Von diesen Zügen kann natür. lich der eine oder der andere fehlen, stärker oder schwächer vortreten sodaß in manchen Fällen das Bild nur demjenigen, der mit demselben vertraut ist, sich enthüllt. Diese Labilität ist ja auch von andern komplizierten Entwicklungsanomalien bekannt.
doi:10.1055/s-0029-1186517 fatcat:iex2s7vmrnal5gslkvfejx5xrm