Rhetorik und Dialektik in der Streitschriftenliteratur des 11./12. Jahrhunderts [chapter]

Wilfried Hartmann, Johannes Fried
1997 Dialektik und Rhetorik im frühen und hohen Mittelalter  
Es ist immer wieder die Vermutung geäußert worden, daß die Veränderungen, die das 11. Jahrhundert, vor allem seine zweite Hälfte, auf dem Gebiet des geistig-literarischen Lebens brachten, mit der genauen Kenntnis und der Anwendung der Dialektik zusammenhängen. Was die Ursachen für diesen Aufschwung der Dialektik im 11. Jahrhundert waren, ist aber nicht recht deutlich. Die Forschung ist sich nicht einig darüber, ob das Auftauchen bis dahin nicht beachteter Texte -wie der selbständigen Traktate
more » ... s Boethius, vor allem dessen Schrift De hypotheticis syllogismis -den entscheidenden Anstoß gab 1 oder ob der Kanon der wenigen Werke, aus denen die Kenntnis der logischen Operationen der Spätantike im früheren Mittelalter bekannt war, sich seit dem 9. Jahrhundert überhaupt nicht verändert hatte. 2 Jedenfalls besitzen wir seit dem ausgehenden 1 O.Jahrhundert aus Italien, Frankreich und Deutschland recht konkrete Nachrichten über das Auftreten von Männern, die ihre Kenntnisse in der Dialektik dazu benutzten, zur Verblüffung ihres Publikums bisher nicht bezweifelte Wahrheiten des Glaubens mit den in der Schule erlernten Methoden zu überprüfen und gelegentlich geradezu lächerlich zu machen. Für das endende 1 O.Jahrhundert belegt dies eine Episode aus der Vita des heiligen Bischofs Wolfgang von Regensburg (972-994), die Otloh von St. Emmeram verfaßte und in deren Kapitel 28 von einem solchen Dialektiker berichtet wird, der über die Aussage von Johannes 1,14: Et verbum caro factum est ("Und das Wort ist Fleisch geworden") folgendes sagte: "Si verbum, non est factum; aut si factum, non est verbum". Diese Sentenz habe er mit großer Eloquenz erläutert, aber der Heilige habe auf Bitten Kaiser Ottos II. den Dialektiker mit dessen eigenen Waffen widerlegt: "Sage mir, was ist ein Akzidens? Jener antwortete äußerst 1 So argumentiert Gerhard Otte, Dialektik und Jurisprudenz. Untersuchungen zur Methode der Glossatoren (Ius Commune. Sonderhefte 1, Frankfurt am Main 1971) 20 f., der feststellt, man sei im 11. Jahrhundert bereits wesentlich über die Schulbücher des Martianus Capeila, des Cassiodor und des Isidor von Sevilla hinausgelangt. 2 Diese Ansicht findet sich bei David Knowles, The Evolution of Medieval Thought (London 1962) 93. Unauthenticated Download Date | 3/24/20 11:55 AM Wilfried Hartmann arrogant: Ein Akzidens ist, was vorhanden ist und nicht vorhanden ist, ohne das Subjekt zu zerstören. Darauf der Bischof: Sage mir, wieviele Arten (formae) von Akzidentien gibt es? Daraufhin war er sofort still, wie wir glauben, getroffen vom Pfeil des allmächtigen Gottes. Der Gottesmann aber, vom Kaiser und von den übrigen dringend aufgefordert, obwohl er stark widerstrebte, legte an der Stelle dessen, dessen Zunge gehindert war, in aller Kürze dar: Das Akzidens ist vierfältig: eines, das weder kommt noch verschwindet, wie eine Adlernase oder ein Stupsnase; ein zweites, was kommt und verschwindet, wie die Sättigung und der Schlaf; ein drittes, was nicht kommt und trotzdem verschwindet, wie die Kindheit und die Knabenzeit; ein viertes, was kommt und nicht verschwindet, wie das Alter und das Ergrauen. In dieser Weise also hat der Sohn, der die Kraft und die Weisheit Gottes, seines Vaters, ist, dem nichts unmöglich ist, um unserer Erlösung willen sozusagen als untrennbares Akzidens die Menschheit angezogen, ohne die Gottheit zu verlieren." 3 Man kann sagen, daß der Dialektiker, der hier vom heiligen Wolfgang bloßgestellt wird, sich auf der Höhe der Bildung seiner Zeit befindet; denn er zitiert die schulmäßige Definition des Akzidens wörtlich übereinstimmend mit der Definition, die Porphyrius nach der Ubersetzung des Boethius gibt. 4 Der von Otloh als Häretiker bezeichnete Kenner der Dialektik belegt demnach ebenso wie Bischof Wolfgang von Regensburg selbst, daß man auch im Reich eine gründliche Ausbildung in Dialektik erhalten konnte und daß auch ein Heiliger seine Kenntnisse zeigen durfte. Eine Vorlage für die Ausführungen Bischof Wolfgangs habe ich bisher nicht gefunden. 5 Vielleicht kann die Episode aber Aufschluß darüber geben, in 3 "Quidam igitur hereticus Andabatarum more quod verbum caro factum est oppugnans, dixit: Si verbum, non est factum; aut si factum, non est verbum. Cum autem hoc multa intonaret eloquentia, accidit ut sanctus Wolfkangus illo adveniret, et a caesare Ottone rogaretur talibus respondere. At ille, sicut erat in spiritu humilitatis: Quoniam, inquit, in habitu sumus monachico, contendere non licet. Quo dicto, ille hereticus, contumacia plenus, iteravit praedicta verba. Tandem Christi propugnator coactus ait: Quia non per spiritualem sed per carnalem medicandus es antidotum, die, quid sit accidens. Ille vero multum arroganter: Accidens est, inquit, quod adest et abest praeter subiecti corruptionem. Rursumque praesul: Quot formarum sit accidens, edicito. At ille protinus, sicut credimus Dei omnipotentis confossus sagitta, conticuit. Theologus autem a caesare simul et ab aliis efflagitatus, quamvis multum renuerit, pro eo quod erat impeditioris linguae, succincte disseruit: Accidens est, inquit, quadriforme: unum quod nec accidit nec recedit, ut acilus et simus; aliud quod accidit et recedit, ut saturitas et dormitio; tertium quod non accidit et tarnen recedit, ut infantia et pueritia; quartum quod accidit et non recedit, ut senectus et canities. Hac ergo similitudine. Filius, qui est virtus et sapientia Dei patris, cui nihil impossibile, pro redemptionis nostrae causa induit quasi per inseparabile accidens humanitatem, non amittens divinitatem. Sed haec omnia cum oculis fidei perspicienda sunt, quia, sicut beatus Gregorius dicit: "Fides non habet meritum, cui humana ratio praebet experimentum." (MGH SS 4, 537, 54-538, 19). 4 Vgl. Boethius, In Porphyrium Commentariorum V: Accidens est quod adest et abest, praeter subiecti corruptionem (Migne PL. 64,132 C). -An dieser Definition hat bereits Boethius in seinem Kommentar zu dieser Stelle Kritik geübt, vgl. ebd. 133 AB. 5 Einen Anhaltspunkt bietet vielleicht eine Stelle bei Porphyrius in der Ubersetzung des Boethius, wo es heißt: "Illae igitur quae per se sunt, in ratione substantiae aeeipiuntur, et faciunt aliud: illae vero quae secundum accidens, nec in substantiae ratione aeeipiuntur, nec faciunt Unauthenticated Download Date | 3/24/20 11:55 AM
doi:10.1524/9783486594249-006 fatcat:7a2pb3trmnds7c7g76bytgrhgq