Gottgeschenkte mania
Josef Pieper
2022
Der hier versuchten Platon-Interpretation möchte ich eine etwas allgemeinere Be merkung vorausschicken. Platon gehört zweifellos zu den Gründungsvätern der abendländischen Philosophie; und daß er noch immer das Philosophieren in Atem hält, kann kaum bezweifelt werden. Jedenfalls ist Platon jemand, dem zuzuhören sich nicht nur lohnt, sondern auch sich ziemt. »Zuhören« allerdings heißt nicht dasselbe wie Zustimmen; Zuhören schließt sogar Nicht-Zustimmung und Wider spruch nicht aus. Was also heißt
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... dann Zuhören? Natürlich muß der wirkliche Zuhörende das von einem Anderen Gesagte aufmerksam zur Kenntnis nehmen; aber es ist auch denkbar, daß einer mit äußerster Aufmerksamkeit zur Kenntnis nimmt, was ein anderer sagt; und ihm dennoch nicht zuhört. Ich habe während des Zweiten Weltkriegs einige Jahre in der Wehrmachts-Psychologie Dienst tun müssen -wobei etwa Bewerber für die Offiziers-Laufbahn »getestet« wurden. So etwas begann damit, daß der Bewerber über seine Herkunft berichtete, über seine Lieblingsfächer in der Schule usw. Dabei waren mehrere Gutachter tätig; einer führte das Gespräch; ein zweiter beobachtete seine Gestik; ein dritter seine Sprech weise (nicht was er sagt, sondern wie er spricht, konsonantisch oder vokalisch, ein tönig oder melodisch etc.). Diese Gutachter hörten also sehr genau zu -könnte man sagen. Und der junge Mann, der da sprach, vermerkte es vielleicht mit Ge nugtuung, daß man ihm solche Aufmerksamkeit zuwendete. Aber wenn er ihre Notizen hätte lesen können, würde er mit vollem Recht gesagt haben: Ihr hört mir ja überhaupt nicht zu! Doch wenn in der gelehrten Platon-Literatur gefragt und untersucht wird, ob ein bestimmter Gedanke aus der Orphik stamme oder aus ägyptischen Totenbüchern oder aus der pythagoreischen Tradition; oder wenn ich sogar bei Werner Jaeger lese, Platon habe den Mythos vom Gericht nach dem To de sozusagen aus dramaturgischen Gründen der wirksameren »Regie« an den Schluß des Gespräches zwischen Sokrates und dem Machtpraktiker Kallikles ge setzt, »weil sein (Platons) künstlerischer Sinn eines metaphysischen Hintergrundes als Komplement zu der heroischen Einsamkeit der sokratischen Seele und ihres Kampfes bedurfte« -dann geschieht offenbar in alledem gleichfalls etwas anderes als Zuhören! Man sitzt Platon nicht, wie es geziemend wäre, als Lernender zu Fü * Den hier wiedergegebenen Beitrag hielt der Autor auf dem anläßlich seines 90. Geburtstags in Münster veranstalteten Symposium Aufklärung durch Tradition (12.-14. Mai 1994) als Vor trag.
doi:10.57975/ikaz.v23i3.4808
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