Barmherzigkeit und Gerechtigkeit

Thomas Schüller
2022
Eckpfeiler kirchlicher Rechtskultur im Spannungsfeld von Gesetz und Liebe 1 Kein Tag vergeht, an dem Papst Franziskus nicht die Barmherzigkeit als Grundhaltung eines jeden Christen in den Mittelpunkt seiner Verkündigung stellt. Das von ihm ausgerufene Heilige Jahr unter dem Leitwort der Barmherzigkeit 2 ist auch für den Kirchenrechtler ein Anstoß, über das Verhältnis von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit vertiefter nachzudenken. An mahnenden Worten, es sich mit der Berufung auf eine unbedingte
more » ... d unbegrenzte Barmherzigkeit bei der Rechtsanwendung, der Applikation von kirchenrechtlichen Normen, nicht zu leicht zu machen und dabei das Gebot der Gerechtigkeit zu missachten, das für Rechtssicherheit und Gleichbehandlung vergleichbar gelagerter Fälle sorgt, mangelt es nicht. Beredtes Beispiel hierfür ist beispielsweise die Ansprache von Papst Benedikt XVI. an die Römische Rota aus dem Jahr 2010. 3 Zwar betont Papst Benedikt XVI. den Zusammenhang von Liebe (caritas) und Gerechtigkeit (iustitia), warnt aber zugleich vor einer zu pastoral motivierten Barmherzigkeit bei der Rechtsanwendung: «Liebe ohne Gerechtigkeit ist keine Liebe, sondern nur eine Verfälschung, weil die Liebe selbst jene Objektivität verlangt, die typisch ist für die Gerechtigkeit und die nicht mit unmenschlicher Kälte verwechselt werden darf. Diesbezüglich gilt, was mein ehrwürdiger Vorgänger Johannes Paul II. in seiner feierlichen Ansprache über die Beziehungen zwischen Pastoral und Recht festgestellt hat: ‹Der Richter muss sich daher immer vor der Gefahr hüten, falsch verstandenes Mitleid zu üben, das zur Sentimentalität absinken würde und nur scheinbar pastoral wäre›». 4 Gründe genug, vertiefter über die kirchenrechtliche Verhältnisbestimmung von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit nachzudenken.
doi:10.57975/ikaz.v46i4.6347 fatcat:qj4e372dbzdlpoznol3avbd3w4