[Rezension von] Ingeborg Baldauf: Shukrullo: die ohne Leichentuch Begrabenen. Politische Verfolgung an der sowjetischen Peripherie, erzählt und erinnert durch den uzbekischen Dichter Shukrullo : Wiesbaden 2005
Jörn Happel
2006
BALDAUF: Shukrullo: Die ohne Leichentuch Begrabenen. Politische Verfolgung an der sowjetischen Peripherie, erzählt und erinnert durch den uzbekischen Dichter Shukrullo. Wiesbaden: Dr. Ludwig Reichert Verlag, 2005. 195 S. Erinnerungen an Zentralasien. Hg. v. Ingeborg Baldauf. "Wo wird mein Leichnam bleiben, ohne Leichentuch?" (57) So formulierte ein alter Mann im Gefängnis seine größte Sorge. Der uzbekische Dichter Shukrullo hörte ihm in der Zelle zu. Er erkannte den alten Mann wieder, der doch
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... n sei¬ nem Leben nur Zigaretten in einem Taschkenter Teehaus verkauft hatte. Warum war er im Gefängnis des allmächtigen KGB? Warum saß Shukrullo selbst in diesem dreckigen und menschenunwürdigen Loch, wartend auf eine Anklage, in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg an der zentralasiatischen Peripherie der Sowjetunion? Die Erinnerungen Shukrullos, die Ingeborg Baldauf gesammelt, in das Deutsche übertragen, und um die Erzählungen von Shukrullos Frau Munavvarxonim erweitert hat, berichten von Leid und Hoffnung aus einer Zeit staatli¬ cher Willkür und bereichern die Stalinismusforschung um den Blick von und auf die Peripherie. Shukrullo ist kein Einzelschicksal. Er weiß nicht, wieso man ihn von Frau und Familie getrennt hat, weiß nicht, was er verbrochen hat, und hofft doch, dass Stalins Gerichte seine Unschuld beweisen können. Ein Dichter, der sein Leben im Kampf gegen Deutschland eingesetzt hat, der die Sowjetunion mit seiner Lyrik bereichern wolltewas soll er verbrochen haben? Doch mit länger wer¬ dender Haft reflektiert Shukrullo sein eigenes Leben, und das seiner Familie. Er spricht über existenzielle Not, über Vertreibungen und Verfolgungen, über die Angst, religiös zu sein oder gar nur aus einer religiösen Familie zu stammen und/oder gebildet zu sein, in einem Land, wo Bildung zur Gefahr um Leib und Leben werden kann. Es ist seine Verwandtschaft, die er als Grund für seine Ver¬ haftung sieht. So spricht plötzlich auch Verständnis aus seinen Erinnerungen, warum es ihn dann doch getroffen hat: War nicht sein Vater ein Geistlicher und ein Heiler, und sein Onkel ein Revolutionär? Die religiösen Gedichte, die Shukrullo verfasste, lernte er auswendig, damit sie bei möglichen Haussuchungen nicht entdeckt würden (51). Auch hatte er die einst von der Sowjetmacht gefeierten und schließlich verdammten Dichter gele-AS/EA LX'4'2006, S. 1051-1090 1052 Rezensionen -Reviews -Comptes Rendus sen. Shukrullo weiß, was mit denjenigen passiert, die sich der Staatsmeinung als Schriftsteller entgegenstellensie verschwinden. Er berichtet davon, wie seine Familie aus Schutzgründen die so verehrten Dichterbücher, die plötzlich nicht mehr opportun waren, im Garten vergrub. Und als sie 1960 wieder ausgegraben werden, bleibt nichts als Staub, als Dreck und Erinnerung -Stalins Kulturpolitik hat den Zentralasiaten die Wurzeln genommen. Was Shukrullo aus dem Garten herausgräbt, ist symptomatisch für die kulturelle Entwurzelung einer ganzen Generation: Die Erinnerung an die Vergangenheit war lediglich "verrottetes Zeug" (22). Auch in den Haftlagern wird Shukrullo seine einzige papierne Er¬ innerung an die Heimat genommen. Eine Quittung über sieben Rubel muss er als Zigarettenpapier klein reißen, doch auch dies nimmt man ihm weg (133). Die Bindungen scheinen für immer verloren. Shukrullo kommt in Haft mit wichtigen Personen zusammen und ist ge¬ meinsam mit ihnen den Drangsalen der Gefängniswärter ausgeliefert, deren Lieblingsbeschäftigung die Sauberkeitskontrolle des Abtrittseimers zu sein scheint. Im Gefängnis verlieren Parteifunktionäre wie Nasriddin Xo'jayev bei Shukrullo ihr Ansehen. Ihm wird bewusst, was es heißt, sich für die Sowjetunion einzusetzen: Am Ende steht doch nur das Schicksal, in Verbannung und Un¬ gnade zu fallen. Dann doch lieber in Armut enden wie sein Cousin Bahovoddin, dessen Leben die Partei war, und der nur deshalb überlebte, weil er sich nicht allzu weit aus dem Fenster herausgelehnt hatte. Shukrullo macht die Erfahrung vieler anderer Verfemter: Folter, Demüti¬ gung und dann die Anklage: Worte und Taten werden ihm im Mund umgedreht. Dabei hat er immer an die Aufrichtigkeit der Richter geglaubt (92, 95), doch im Gericht entlarvt er sie als Marionetten des KGB (98). Die Angst, nicht mehr die Geliebten in der Heimat erblicken zu können, wird Shukrullo und seinen Lei¬ densgenossen bewusst: Schon bei der Verhaftung sieht er sich als Mann mit verbundenen Augen (14)was mag noch geschehen? Immer wieder sieht er in der Erinnerung die einzige moralische Stärkung. So im Aufsagen von Gedichten, im Denken an Vergangenes, ob an Gutes oder an Schlechtes. Nach der Verur¬ teilung zu 25 Jahren Zwangsarbeit lernen die Intellektuellen wie er und viele Tausende andere in Krasnoyarsk die "viehische Brutalität" kennen, die die Hoff¬ nung auf das Überleben nimmt (123f.). Die Gefangenen erleben es nach der KGB-Haft als zweites, endgültiges Tor zur Hölle (124), schließlich als "Friedhof der Lebenden" (138). Die einzige Hoffnung beruht jedoch auf dem stetigen Machtwechsel: Wer heute für die Verbannung verantwortlich ist, wird morgen selbst verbannt (128). Die Demütigungen gehen indes weiter. Doch eine sticht hervor: Der Verlust seines Namens. Er interpretiert dies als Kainsmal der Haft, AS/EA LX'4'2006, S. 1051-1090 Rezensionen -Reviews -Comptes Rendus 1053 die ihm jegliche Menschenwürde nahm (142). Dann geschieht ein Wunder: Sta¬ lin stirbt.
doi:10.5451/unibas-ep7135
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