Psychiatrie und Kunst in der Provinz
2001
Schweizerische Ärztezeitung
Schweizerische Ärztezeitung / Bulletin des médecins suisses / Bollettino dei medici svizzeri •2001;82: Nr 45 2409 Editores Medicorum Helveticorum Wenigstens in Universitätsstädten -obwohl auch diese nur mit Mühe erklären könnten, wieso eigentlich sie sich für Weltstädte halten möchten, und dann zum Beispiel auf einige international bekannt gewordene und in der Fachwelt hochgeachtete Professoren hinweisen und verschweigen würden, dass diese von den sehr unweltmännischen Stadtbehörden inzwischen
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... ertrieben wurden -also, wenigstens in diesen Städten gibt's doch gelegentlich Touristen, die erfolglos den Stadtplan in der Hand Einheimische nach dem Weg zum Kunsthaus fragen. Solches widerfährt hingegen der Provinzstadt nicht, obwohl es auch in dieser ein Kunsthaus und eine nach diesem benannte Bushaltestelle geben kann. Trotz dem ja doch wieder nur provinziellen Ehrgeiz, Kunstbeflissenheit zu forcieren, als Mittel gegen den hier besonders schlecht ertragenen Vorwurf, eben der Provinzialität, macht das Kunsthaus der kleinen Stadt einen ärmlichen, seine Ausstellungen einen dürftigen Eindruck, so dass jede Vernissage in einer unbedeutenden Galerie oder einem ehemaligen Dorfschulhaus in der ländlichen Umgebung eigentlich mehr Überraschung verspricht und leicht zur Attraktion für Kunstverständige und -verständigkeitsbeflissene gerät, wovon das provinzstädtische Kunsthaus, obwohl anlässlich seiner Eröffnung und Einweihung vor Jahren als Kleinod bezeichnet, meist nur träumt. Gelegentlich gibt es ehemalige oder weiterhin psychisch Kranke, die sich, halb krank, halb gesund, aufs Malen verlegen und allenfalls Gelegenheit, gelungene Erzeugnisse auszustellen, erhalten: Darstellung von verwobenen, teilweise verwüsteten Innenwelten, in denen kein Stein auf dem anderen stehengeblieben zu sein scheint; anderseits blühende Dörfer, die aber im See oder Geröll oder Geschiebe versunken sind, oder die Welt selbst steht auf dem Kopf beziehungsweise auf den Wolken statt auf dem Boden, der seinerseits auf dem Gemälde den Platz des Himmels besetzt hält, so dass etwaig dargestellte Dorfbewohner wie auch der sich um Einfühlsamkeit bemühende Betrachter sozusagen Erde statt Luft zu atmen erhalten, und auch das wie gesagt blühende und teilweise intakte, aber unterirdische, sozusagen vergrabene oder in Kipplage und unzugänglich-unerreichbar in einer Felswand hängende Dorf, so verschüttet oder ertrunken oder wie eine fixe Idee in der Luft stehend und offenbar von akuter Absturzgefahr ganz unberührt, scheint einer Atmungsmöglichkeit beraubt oder von Sauerstoffzufuhr abgeschnitten, was beengend wirkt, wie auch die Betrachtung eines dargestellten Buschfeuers, das schon ein etwas unwirklich-idyllisches Haus in Angriff zu nehmen scheint am linken Bildrand, während das Bächlein, das den Brand löschen könnte, weit entfernt rechts oben im Bild vor sich hinfliesst und dazwischen eine tiefe Schlucht klafft. Bilder, die berechtigterweise ihr Leid klagen, wie wenn jemand «Feuer!» ruft, aber der Feuerwehrobmann mit seinen Leuten im Restaurant beim Jassen sitzt und heute gerade nicht gestört werden darf. Anders das provinzstädtische Kunsthaus, das sich nicht mit mehr oder weniger gekonnt ausgearbeiteten Malversuchen von Erkrankten oder Rekonvaleszenten abgibt, sondern sich um grosse oder dann wenigstens möglichst moderne Namen bemüht, die es aber insofern nicht richtig zum Klingen bringt, als es sich jeweils von einem einigermassen angesehenen Künstler nur wenige bedeutende Werke und daneben nur allerlei eher Unbedeutendes leisten kann, etwa frühe und teilweise noch amateurhafte oder Anderes nochgestaltende Skizzen, teilweise vage und unfertig, und die Kunst oder vermeintliche Kunstkenntnis der städtischen Besucher besteht darin, diese Mängel zu übersehen und sich als Grosstädter zu fühlen, deren City über ein richtiges Kunsthaus mit regelrechten Ausstellungen verfügt, in denen schmutzigschmierige Skizzenblocks mit Gekritzel und Schraffierübungen des Genies, das noch nicht wusste, was es wollte, weggelassen werden können. Wenigstens einmal auch hier etwas Originelles fast in der Art eines späten Tomi Ungerer, nämlich Arztkarikaturen teilweise mit Sprechblasen: Der Chirurg, der sich freitagabends vor Wochenschluss über ein eben von der Mutter zugebrachtes Kind ärgert, das ihn mit einem gebrochenen Arm beglückt, und der fragt, ob der Unfall denn nicht auf Montag verschiebbar gewesen wäre, und das Bild trägt den Titel «wenn nicht freitags, so bestimmt auch nicht am Montag». Oder der Psychiater als Henne dargestellt, die nicht ihre selbst gelegten Eier brüten darf, sondern andere untergeschoben erhält, aus denen Patienten mit schwer verunstalteter, von Krankheit wie von einem schweren Sturm geschleifter Persönlichkeit schlüpfen, die im nächsten Bild der Psychiater nun nicht einmal nur zurechtzubiegen, sondern geradezu neu zu fundamentieren und zu rekonstruieren versucht; dann der Psychiater am Gerüst, das er als erstes um die jeweilige, zusammengeschachtelte, windschiefe, verkümmerte, in Einzelteile auseinandergefallene oder sogar bis auf wenige Einzeltrümmer destruierte Persönlichkeit des Patienten errichtet hat und das die äussere Form zeigt, an der sich der neue Aufbau orientieren soll; einer der Patienten scheint alle Bauteile seiner Seele, die wegen Krankheit funktionslos geworden sind und nur stören, einigermassen ordentlich in eine Truhe deponiert zu
doi:10.4414/saez.2001.08553
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