Verfassungsgerichte als Wettbewerbshüter des politischen Prozesses [chapter]

Niels Petersen
2014 Das letzte Wort - Rechtsetzung und Rechtskontrolle in der Demokratie  
In der Theorie ist die Grenzziehung zwischen der gesetzgeberischen und der richterlichen Gewalt scheinbar einfach. Die Gesetzgebung befasst sich mit dem Politischen, ihr gebührt die Rechtsetzungskompetenz. Verfassungsgerichte üben dagegen lediglich eine rechtliche Kontrolle der Gesetzgebung aus. Sie überprüfen, ob die vom Parlament erlassenen Gesetze mit der Verfassung in Einklang stehen, haben sich aber aus den politischen Fragen grundsätzlich herauszuhalten. In der Praxis ist die Grenzziehung
more » ... deutlich schwieriger. Rechtsprechung ist nicht nur ein Entdeckungsprozess, in dem es um die Suche nach der "richtigen" Interpretation einer vorgefundenen Rechtsnorm geht. 1 Vielmehr werden Gerichte oft gestalterisch tätig und setzen durch ihre Urteile eigenes Recht. So hat bereits Hans Kelsen festgestellt, dass die Trennung zwischen Rechtssetzung und Rechtsanwendung unmöglich sei. 2 Dies stellt insbesondere die Verfassungsgerichtsbarkeit vor ein Legitimitätsproblem: Wie lässt es sich rechtfertigen, dass Verfassungsgerichte die Entscheidungen demokratisch legitimierter Parlamente kontrollieren und im Zweifel korrigieren können, wenn Richter bei diesen Entscheidungen einen signifikanten Ermessensspielraum haben? Empirische Studien zum Entscheidungsverhalten der Richter des U.S. Supreme Court legen nahe, dass politische Präferenzen einen maßgeblichen Einfluss auf die richterlichen Voten haben. 3 Insofern ist nicht verwunderlich, dass gerade in der US-amerikanischen Literatur teilweise scharfe Kritik an der verfassungsgerichtlichen Kompetenz, legislative Entscheidungen zu überprüfen, geübt wird. 4 Eine Fundamentalkritik der weitreichenden Kontroll-und Verwerfungskompetenzen des Bundesverfassungsgerichts sucht man in der deutschen staatsrechtlichen Literatur vergebens. 5 1 D. Grimm, Verfassungsgerichtsbarkeit im demokratischen System, JZ 1976, 697 (698). S. dazu auch St. Mayer, Richterliche Rechtserzeugung und die Grenzen der "Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge" durch den EuGH, in diesem Band. , 1503, die neben dem politischen Hintergrund auch ökonomische Indikatoren für ausschlaggebend halten. Das bedeutet jedoch nicht, dass politische Faktoren allein ausschlaggebend sind. So gibt es mehrere Studien, die feststellen, dass juristische Methoden, wie etwa stare decisis, durchaus einen statistisch signifikanten Einfluss auf das Entscheidungsverhalten von Richtern haben, s. S. Brenner/M. Stier, Retesting Segal and Spaeth's Stare Decisis Model, Am.
doi:10.5771/9783845249360-59 fatcat:t6kza43ql5b73kt25neoblwoay