"Velle sibifieri in forma hac". Symbolisches Handeln im Becketstreit

Timothy Reuter, Vorträge Und Forschungen
2014
In den folgenden Erörterungen geht es mir um mittelalterliche Politik als Spiel, wofür man verschiedene passende Metaphern gebrauchen könnte 2^. Es wäre etwa Schach zu nen nen, was auf das Vorhandensein von strengen Spielregeln und von allgemein bekannten Eröffnungen, Kombinationen und Endspielen erinnert. Man kann den Streit auch als Theater betrachten 3^. Wenn hier das theatralische Element in der Geschichte des Becket streites betont wird, so bedeutet dies etwas anderes als das, was mehrmals
more » ... seit Tennysons Zeiten zu einer dramatischen Darstellung der Ereignisse geführt hat. Für Tennyson, Eliot, Anouilh und Fry war der Konflikt in erster Linie ein moralischer: Es ging um unter schiedliche Auffassungen von Recht und Staatsinteresse (so Tennyson und Fry) oder, im Zeitalter des Totalitarismus, um die Wiederentdeckung absoluter Moralprinzipien durch einen Menschen, der vorher lange Zeit im Dienste eines sich selbst zum obersten Prinzip aufstellenden und daher im Grunde unmoralischen Staates gestanden hatte (so Eliot, der den politischen Kompromiß als ein Paktieren mit dem Bösen darstellt, und gewisser maßen auch Anouilh). Der frei nach Anouilhs Stück von Peter Glenville dirigierte Film, der mehrmals im deutschen Fernsehen gelaufen ist, schwankt übrigens zwischen den bei den Auffassungen 4^. In diesen Werken geht es auch darum, die wirklichen oder vielleicht 1) Aufgrund der Diskussionen und Hinweise auf der Reichenau und in Kolloquien in Oxford und South ampton habe ich Inhalt und Argumentation des ursprünglichen Vortrags für die Druckfassung an mehre ren Stellen erheblich geändert. Auch der Titel ist ein anderer geworden. 202 TIMOTHY REUTER nur scheinbaren Widersprüche im >Charakter< Beckets durch dramatische Mittel zu er leuchten, zu erklären, zu verstehen. Die Harmonisierung dieser Widersprüche war gleich nach dem Martyrium auch für Beckets Hagiographen ein Hauptanliegen, und für namhaf te Historiker seit dem 19. Jahrhundert ist es ein viel diskutiertes Problem gewesen 5 ). Aber der Begriff Charakter, als fester innerer Kern eines Menschen begriffen, der, richtig ver standen, sämtliche Handlungen dieses Menschen erklären läßt, ist hier wenig hilfreich; in der Form, wie er von einer älteren Historikergeneration angewendet wurde, ist er kaum haltbar, da er meist auf Zirkelschlüssen beruht. Wenn im folgenden von Theater oder In szenierung oder Zuschauern und Darstellern die Rede ist, dann eben nicht im Sinne einer expliziten oder impliziten Wertung des Erzbischofs: es geht hier nicht darum, ob er ledig lich ein begnadeter Schauspieler oder ein virtuoser Heuchler gewesen sei oder ob er viel mehr mit echter und gradliniger Überzeugung seine Sache vertreten habe, und wer meint, solche Fragen für sich selbst, geschweige denn für andere mit Sicherheit bestimmen zu können, der sei auf die Confessiones des hl. Augustinus verwiesen. Hier geht es vielmehr um die Frage, wie der Streit von den >Spielern< überhaupt als solcher kenntlich gemacht werden konnte, wie Streit, Versöhnung und Versöhnungsbereitschaft (oder sein Gegen teil) signalisiert wurden. Es geht auch um das Verhältnis zwischen Werkzeug und Aufga be: inwieweit ließ sich das Repertoire von Spielmitteln, Spielplänen und Spielregeln für die Ziele der Spieler einsetzen und instrumentalisieren, inwieweit bestimmte, verkörperte so gar dieses Repertoire selbst die Ziele? Das klingt alles etwas abstrakt, und wir werden auf dieser Ebene der Abstraktion noch etwas verharren müssen; nachher wird es konkreter, und dabei werden hoffentlich die an fänglichen Abstraktionen an Klarheit gewinnen. In den letzten zwei oder drei Jahrzehn ten ist es Mediävisten klar geworden, daß die mittelalterliche Politik zumindest im Zeit raum 8001100 von ritualisierten Verhaltensmustern und symbolisch geladenen Aktio nen durchdrungen wurde. Das heißt, solche Dinge waren nicht auf bestimmte Anlässe oder Zeitpunkte beschränkt, wie zum Beispiel Antritts und Festkrönungen, die von einer GRASSIN, Le Mythe litteraire de Thomas Becket ä l'epoque moderne, in: Thomas Becket. Actes du collo que international de Sedieres, 1924 Aoüt 1973, hg. von Raymonde FOREVILLE, Paris 1975) Eine ausführliche und aktuelle Würdigung der umfangreichen BecketHistoriographie steht derzeit aus; siehe aber James W. ALEXANDER, The Becket controversy in recent historiography, The Journal of British Studies 9 (1970), S. 126. Die neuesten und besten Biographien sind Frank BARLOW, Thomas
doi:10.11588/vuf.2001.0.17617 fatcat:i6hfoc73tvd6xmv3zmvodwpifu