Unheimliches Theater
William Paul, Mediarep.Org, Frank Kessler, Sabine Lenk, Martin Loiperdinger
2021
Im Herbst 1913 verspricht The Moving Picture News, ein wichtiges Blatt der Kinobranche, das kurz zuvor seinen Konkurrenten Exhibitor's Times aufgekauft hatte, neben anderen Veränderungen auch, daß man bald »den neuen Namen der nunmehr vereinigten Publikationen« bekanntgeben würde.' Einige Wochen später erscheint die Zeitschrift unter ihrem neuen Namen: The Motion Picture News! Heute mag diese Veränderung unwesentlich erscheinen, doch die Herausgeber erachten diesen Unterschied 1913 offenbar als
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... ausreichend, um nunmehr das »höchste Streben der Motion Picture News[ ... ], die Kunst und die Industrie des motion picture in einem würdigen, ehrenhaften und fortschrittlichen Geist darzustellen«, zum Ausdruck zu bringen. Doch wie kann der Wechsel von moving picture zu motion picture in irgendeiner Weise als bedeutsame Veränderung erscheinen? Bald darauf erklärt The Motion Picture News den Unterschied, indem auf der Seite mit redaktionellen Stellungnahmen ein Artikel mit dem Titel »Motion Pictures Versus ,Moving< Pictures« gedruckt wird, der in einer Zeitschrift in Boston erschienen war: Wenn viele gute Leute den Irrtum begehen, die motion pictures als moving pictures zu bezeichnen, so hat dies zu zahlreichen humorvollen Bemerkungen über diese Form der Unterhaltung geführt. Obwohl die Masse kaum geneigt ist, die Herkunft einer Bezeichnung oder eines Namens zu analysieren, gibt es doch genügend Menschen, die wissen, daß die fachgerecht projizierten motion pictures eigentlich eine schnelle Folge von Stereoptikon-Bildern sind, und die Genauigkeit des Ausdrucks »motion pictures« schätzen. In einem motion picture-Haus beschäftigen sich die Zuschauer nur mit dem, was auf der Leinwand erscheint.Jedes der zahllosen Bilder wird auf einer gleichbleibenden, abgegrenzten Fläche gezeigt, alle zusammen simulieren sie Bewegung, doch die Bilder selbst bewegen sich nicht. Insoweit der Begriff moving pictures sich eingebürgert hat, wird er von Menschen mit Unterscheidungsvermögen für die minderwertigen Häuser verwendet, während motion pictures eher auf den anständigen und geschmackvollen Charakter sowohl der Stätte als auch der Darbietung hinweist.i Wie dieser Artikel zeigt, soll die gewählte Bezeichnung den >Rang< anzeigen, den die Zeitschrift durch diese Aufwertung anstrebt. Der Wechsel von moving zu motion signalisiert den Aufstieg in eine andere Klasse genau zu der Zeit, da l 17
doi:10.25969/mediarep/15926
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