"Hast du die Orte erspürt, wo Betastung dem Mägdelein wohltut …" [chapter]

2020 Gegen / Gewalt / Schreiben  
In der letzten Lektion des zweiten Buchs von Ovids Ars amatoria werden dem Schüler Lehren zum richtigen Verhalten beim Koitus mit einer puella erteilt, wozu auch gehört, dass er die erogenen Zonen seiner Partnerin berühren soll (Ov. ars 2,719f.): loca reppereris, quae tangi femina gaudet, non obstet, tangas quo minus illa, pudor. Die metrische Übersetzung dieser Verse in der erstmals 1923 und bis 1980 in 14 Auflagen erschienenen, mithin vielgelesenen Tusculum-Ausgabe Wilhelm Hertzbergs in der
more » ... arbeitung Franz Burgers lautet: 1 Hast du die Orte erspürt, wo Betastung dem Mägdelein wohltut, Dann -genier dich bloß nicht! Hingerührt! Ihr ist's schon recht. Sieht man davon ab, dass Ovid, wie er im Proöm implizit verkündet (Ov. ars 1,33f.), junge Römer nicht im Umgang mit "Mägdelein", sondern mit erotisch bestens erfahrenen Libertinen unterweist, und bezieht man das Distichon ganz allgemein auf den sexuellen Diskurs zwischen den beiden Geschlechtern, ist man doch einigermaßen schockiert von dem Frauenbild, das Lesern noch vor 40 Jahren, also zu einer Zeit, als Frauenemanzipation und "sexual revolution" längst selbstverständlich geworden waren, von dieser Verdeutschung vor Augen geführt wird. Während Ovid im lateinischen Original dem Mann durchaus sachlich empfiehlt, die Partnerin beim Vorspiel ohne Scheu an Partien ihres Körpers manuell zu stimulieren, an denen sie das erwartungsgemäß erregt, spricht die Übersetzung von "Betastung", die heute Begriffe wie "Busengrabscher" evoziert, und "ihr ist's schon recht" in Verbindung mit "Mägdelein" erzeugt die Vorstellung von einer Novizin in der Liebe, die das "Betasten" durch einen von ihr angebeteten Mann nolens volens mit sich geschehen lässt; überdies kommt mit dem Imperativ "Hingerührt" ein preußisch-militärischer
doi:10.1515/9783110703221-002 fatcat:qeygwl2xkfannlxc7ytp6rcswy