Der Mechanismus der chronischen Bleivergiftung nach experimentellen Studien
Ernst Erlenmeyer
1913
Zeitschrift für Experimentelle Pathologie und Therapie
Der lilechanismus der chronischen Bleivergiftung nach experimentellen Studien. ¥on Dr. Ernst Erlenmeyer. (Mit 1 Abbildung und 1 Curve im Text.) Einleitung. I~ur wenige chronisehe Krankheitszust/inde seheinen infolge der chemischen Eigenart ihrer speeifisehen !~oxe experimentell so reproducirbar zu sein, dass das quantitative Verh/iltniss yon Gift zu Organismus als chemiseh fassbare Frage gesetzt werden kann. Es sind dies wohl ausschliesslieh die ehronischen Vergiftungen durch Arsen, Quecksilber
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... und Blei. Die beiden ersten sind in ihrem Mechanismus, der bestimmte Organe in bestimmter Weise sch/idigt, einigermaassen klargestellt. Ganz im Dunkeln tappt unsere Vorstellung dagegen bei dem Vetsuch, sich ein Biid fiber den Meehanismus der chronischen Bleivergiftung zu machen. Man weiss, dass Blei in den Organismus aufgenommen wird, man weiss, dass Blei ausgeschieden wird, und man weiss auch, class Blei yon verschiedenen Untersuehern im Organismus selbst gefunden wurde. Ueber die Beziehung dieser drei Factoren zu einander, in der offenbar der Sehliissel zu der ganzen Frage liegt, ist aber niehts bekannt, obwohl diese Erkrankung wegen ihrer chemischen Zug/ingliehkeit Gegenstand zahlreieher Untersuchungen war. So ist vor Allem die Vertheilung des Metalls im Organismus eifrig studirt worden. Die /~lteste und die neueste Arbeit fiber diesen Gegenstand liegen fiber 30 Jahre auseinander. Uebereinstimmung der Resultate besteht nieht. Maurel u.nd Careanagua 1) hoffen eine Versehiedenheit der Vertheilung des Giftes im Organismus in dem Sinne zu finden, dass etwa die H'/iufigkeit der Erkrankung gewisser Organsysteme dutch einen grfsseren Gehalt dieser Organe an Blei erkliirt wfirde. Verschiedene Miiglichkeiten des Mechanismus. Die Voraussetzung zu dieser Fragestellung, dass niimlieh die Bleiwirkung als Summation zahlreicher kleinster organverankerter Metallmengen zu denken ist, wobei eine mfglieher Weise vorhandene Versehiedenheit des Bleigehaltes durch Verschiedenheit entweder der Giftaffinit/it oder 1) Compt. rend. do la soc. de biol. 1912. Bd. 52. tl. 26--28. Der Mechanismus der chronischen Bleivergiftung nach experimentellen Studion. 311 der Cireulationsverhiiltnisse bedingt w~re, ist offenbar yon den betreffenden Autoren stillschweigend gemacht worden. Das Wesentliehe dieser Auffassung liegt in der Retention. ~Nach ihr wird also Blur aufgenommen, zum Theft retinirt, zum Theil wieder ausgeschieden. Die Erkrankung selbst witre dann eine naeh Menge odor Vertheilung noch n~her zu charakterisirende Function der Retention. Es liisst sich aber noch eine zweite MSglichkeit fiir die Entstehung der Bleivergiftung denken, fiir die die Pharmakologie ebenfalls Analogien bietet. Es kSnnte der Mechanismus der Vergiftung niimlich auch der sein, dass eine Anhiiufung yon Blei iiberhaupt nicht stattfindet, sondern dass das Metall in derselben Menge, in der es aufgenommen, aueh wieder ausgeschieden wird. Der toxische Factor steckto dann einzig in der Anwesenheit des Metalles im Organismus. Das Gift ist jetzt nieht als an Zellsubstanzen gebundon zu denken, sondern die Zellen umspiilend, vielleicht auch durchspiilend, kurz als Bleistrom, der den KSrper durchfliesst. Diese letzte Auffassung ergiebt aueh sofort eine Vorstellung fiber die MSglichkeiten der quantitativen Variabeln, die den Process beherrscht. Entweder ist diesclbe in der Dichte des Bleistromes zu suchen, odor in der Zeitdauer seines Fliessens, seiner Einwirkung. Eino ungef~hre Werthung dieser beiden letzten MSglichkeiten liisst sich schon aus der Betrachtung der gewerblichen Vergiitungsm5glichkoiten gewinnen. Wenn nur die Zeitdauer der Bleiwirkung die Entstehung der Erkrankung verursacht, ist schwcr einzusehen, warum nicht al]e hrbeiter in Blei= betrieben nach einer bestimmten Zeit erkranken. Denn alle nehmen~ das l~isst sich mit grSsster Sicherheit behaupten, Blei auf. Die andere MSgliehkeit, die also in dcr Diehte des Blcistromes das quantitative Moment sieht~ gewinnt demnach an Wahrscheinlichkeit. Die Cardinalfrage der chronischen Bloivergiftung lautet also: Retinirte Menge odor Bleistrom. In einer friiheren Arbeit aus dem Straub'schen Iustitut babe ich 1) auf Grund experimenteller Untersuehungen die Wahrscheinlichkeit der ersten Auffassung betont, withrend Straub e) der zweiten Auffassung zuneigte. Eine dritte MSglichkeit, dass das Metall nitmlich ein Organsystem speciell sehiidigt, und dass dutch dessert Ausfallserscheinungen der gosaturate Organismus gesch/idigt wird, ist nach dem klinischen Bilde und dem pathologisehen Befunde der Erkrankung unwahrseheinlich. Vielmehr spricht das Auftreten yon Kachexie und Ani~mie bei fehlenden grSberen Localver~nderungen fiir ein allgemein toxisehes Moment, eine Auffassung, die eine verschiedene functionelle Empfindlichkeit verschiedener Organsysteme keineswegs ausschliesst. 1) E. Erlenmeyer, Blei-und Eisonbilanz bei experimenteller chronischer Bleivergiftung. Inaug.-Diss. Freiburg 1911. 2) W. Straub, Ueber chronische Vergiftungen, speciell die chronische Beivergiftung. Deutsche rood. Wochenschr. 1911. S. 1469. Siehe auch: E. Erichmeyer, Experimentelle Studien fiber don Mechanismus der chronischen Bleivergiftung. Yerhandl. d. Deutschen Congr. f. innere Medicin. 1913.
doi:10.1007/bf02622601
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