"Am liebsten höre ich Stille"
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Stefan Greif
2022
Gehörte Geschichten
Sex Schnitt und der Sound des Aufbegehrens In der Hörspiel-und Rundfunkdebatte der späten 1960er Jahre entwickelt sich eine Soundästhetik, die Töne als kulturelle Objekte ausweist. Mit dieser Hinwendung zur materiellen "Klangumgebung" beanspruchen "flüchtige sensorische Ereignisse" wieder einen eigenen "epistemischen Wert" (Schulze 2020, 158 f.; 165). Selbst "Autofahrgeräusche" oder "Schritte" gewinnen jetzt in Radioproduktionen "eine ganz bestimmte Ausdrucksqualität" (Pörtner 1970, 60 f.).
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... das Hören akustischen Wissens hinaus geht es im damaligen Hörspieldiskurs ferner um Schallereignisse, die als Lärm oder Störung empfunden werden. An dieser klang-und kulturanthropologischen Diskussion beteiligt sich Rolf Dieter Brinkmann mit 37 Tonbandcollagen, die er als "Appellation der Vokale, der Geräusche" (WSS pink VI/03:19) 1 konzipiert. So berichtet er in Da geh ich also jetzt an alten Läden vorbei (WSS gelb IV) von einem nächtlichen Spaziergang durch ein Kölner Stadtviertel. Nachdem er verschiedene Firmenschilder laut vorgelesen und sich über die Verkommenheit seiner Umgebung ereifert hat, heißt es schließlich: "Ich möchte in einer Welt leben, in der es diese Geräusche nicht gibt" (WSS gelb IV/03:56). Was darunter genauer zu verstehen ist, bleibt zunächst unklar, denn Brinkmann imaginiert wortreich den Traum von einer "ganz andere[n] Welt", in der es keine Neonreklamen oder keinen Plastikmüll mehr gibt, die aber auch befreit ist von diesem "verrotteten, alten, miesen, kleinen Dreckstück von altem Motorrad" (WSS gelb IV/03:33; 04:52). Als weitere vorbeifahrende Fahrzeuge zu hören sind, blockiert der Krach vollends seine sinnlichen Erfahrungen. Aber wie fügen sich heftiges Atmen oder lange Pausen, in denen Brinkmann nach passenden Formulierungen sucht, zur erhofften Stille? Bricht der Track Da geh ich also jetzt an alten Läden vorbei unvermittelt ab, um das Schweigen der Klänge zu illustrieren? Soundästhetische Antworten bieten die genannten Originaltonaufnahmen, die zwischen Oktober und Dezember 1973 entstehen. 2005 auszugsweise von Herbert Kapfer und Katarina Agathos unter dem Titel Wörter Sex Schnitt veröffentlicht, gehören die Brinkmanns Wörter Sex Schnitt wird im Fließtext mit der Sigle WSS und der Angabe der jeweiligen Farbedie fünf CDs sind nicht nummeriertzitiert. Zur Klanganthropologie als wissenschaftliche Teildisziplin der Sound Studies vgl. Schulze 2020, 166.
doi:10.1515/9783110741773-017
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