Umwelt in Gesellschaft, Politik und Recht
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Wolfgang Liebert, Patrick Scherhaufer, Karl Hogl, Reinhard Steurer, Helga Pülzl, Christine Altenbuchner, Ulrike Tunst-Kamleitner, Martin Schmid, Verena Winiwarter
2019
Umwelt- und Bioressourcenmanagement für eine nachhaltige Zukunftsgestaltung
Die Umweltdebatte hat in den westlichen Industriestaaten erst seit den 1960er-und 1970er-Jahren ernsthaft Fuß fassen können. Dafür gab es mehrere Auslöser: ein wachsendes Umweltbewusstsein infolge größerer technischer Unfälle, ein schleichenderzunächst teilweise kaum sichtbarer -Prozess der ökologischen Degradation, Gesundheitsgefährdungen sowie die Entstehung global wirksamer Problemlagen durch technisches Handeln. Die Diskussionen der Umweltbewegung und -politik erreichten auch die
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... . Seit den 1970er-Jahren entwickelte sich eine neue Bereichsethik, die Umweltethik. Sie baut auf traditionellen ethischen Konzeptionen auf und fragt nach ethisch-moralischer Orientierung für das menschliche Umwelthandeln. Stellvertretend dafür stellt dieser Beitrag die Ethikkonzeption von Immanuel Kant sowie die Verantwortungs-und Zukunftsethik von Hans Jonas in Hinblick auf die Entwicklung umweltethischer Ansätze vor. Abschließend folgt ein knapper Ausblick auf die Breite der umweltethischen Debatte. 3.1.2 Kants Maximenethik: Oberste Vernunftprinzipien der Moral Wie kann unsere innere moralische Stimme gut zum Ausdruck kommen? Wie können wir uns selbst leiten? Wie kann etwas für alle Einsichtiges und (irgendwie) Verbindliches (und damit vielleicht Verpflichtendes) ausfindig gemacht werden, ohne in moralischen Dogmatismus 1 oder den Relativismus der Beliebigkeit in Moralfragen zu verfallen? Immanuel Kant (1724-1804) hat in seinen ethischen Schriften versucht, Antworten zu geben. Er ging dabei ganz bewusst nicht von Gefühlen aus, sondern bezog sich auf das Vernunftwesen Mensch. Die Fähigkeit zum eigenständigen Nachdenken ist eine menschliche Gabe und wird zur Aufgabe für das Gelingen einer freiheitlichen menschlichen Zivilisation. Oberste moralische Prinzipien sollen allein aus Vernunft-____________________ 1 Hier im Sinne des Vertretens von festgefügten ethischen Lehrmeinungen oder Normen in einer Weise, die keine Kritik daran zulässt. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en) 2020 E. Schmid und T. Pröll (Hrsg.), Umwelt-und Bioressourcenmanagement für eine nachhaltige Zukunftsgestaltung, https://doi.gründen einsehbar und gültig sein -ohne (direkten) Bezug auf Erfahrungen in der Welt (Empirie). Sie sollen vor aller Erfahrung (a priori) gelten. Kant will die Moral tief in der Vernunft des Menschen verankern -unabhängig von rein empirischen, von Fall zu Fall wechselnden Bedingungen des menschlichen Handelns. Der erste Satz seiner Grundlegung der Metaphysik der Sitten 2 lautet: "Es ist ... nichts in der Welt, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille" (Kant 1785/1975, BA S. 1). Der Gehalt dieses Satzes meint mindestens zweierlei: Erstens ist die normative Idee eines uneingeschränkt Guten grundlegend für die Sittlichkeit (Moralität) einer Person und für das Zusammenleben der Menschen. Zweitens wird die Willensfähigkeit als besondere Eigenschaft des Vernunftwesens Mensch hervorgehoben. Das, was den Menschen auszeichnet, ist also nicht nur seine Vernunft allein, sondern auch sein freier Wille. Wenn das so ist, muss jeder Mensch sein willentliches Handeln genauer ansehen und prüfen, ob es dem Guten dient. Gibt es ein objektives Kriterium für Moralität, das a priori Gültigkeit beanspruchen kann? Kann man bestimmen, welche grundlegenden Handlungsprinzipien oder Handlungsmaximen moralisch vertretbar sind? Gemäß Kant sind dies Appelle an die menschliche Pflicht, die in Form von Imperativen formuliert werden ("handle so und so"). Die Verwendung des Pflichtbegriffs durch Kant mag heute irritieren, aber dies erfolgte im Geiste der Aufklärung. Es handelt sich also nicht um Befehle, die dem einzelnen Menschen von äußeren Mächten, von überlegenen machtvollen Autoritäten auferlegt werden, sondern es geht um die Selbstgesetzgebung des vernünftigen, freien und autonomen Menschen. Der gesuchte Typ des Imperativs ist für Kant ein kategorischer Imperativ. Vereinfacht ist damit gemeint: Es soll etwas formulierbar werden, das über alle Funktionalisierungen und rein subjektive Absichten des Handelns hinausreicht und Anspruch auf voraussetzungslose, eben "kategorische" Verbindlichkeit erheben kann. Gesucht ist ein Imperativ der allgemeinst denkbaren Form mit universeller Gültigkeit und Brauchbarkeit, der für jeden vernunftbegabten Menschen einsichtig und anwendbar ist. Kants kategorischer Imperativ in seiner ersten Formulierung lautet: "Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde" (Kant 1785/1975, BA S. 52). Wie "funktioniert" der kategorische Imperativ? Eine Maxime ist eine praktische Regel, d.h. eine Regel für das Handeln, welche durch die Vernunft bestimmt wird. Eine Maxime ist also ein überlegter Grundsatz (oder das Prinzip), nach dem das Subjekt handeln will. Der kategorische Imperativ -als vernünftiger, objektiver, allgemeingülti-____________________ 2 Zitiert wird nach Seiten der Originalausgabe, wie üblich mit BA für die erste (A) und die zweite Auflage (B), sodass die Stellen in jeder guten Kant-Ausgabe aufgefunden werden können. Die dritte Formulierung des kategorischen Imperativs 3 lautet: "Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst" (Kant 1785/1975, BA S. 66f.). Kants Erläuterungen dazu sprechen für sich: "der Mensch ist keine Sache"; der ____________________ 3 Es gibt noch eine zweite und vierte Formulierung, auf die hier nicht näher eingegangen wird. 54 3 Umwelt in Gesellschaft, Politik & Recht Mensch ist "nicht etwas, das bloß als Mittel gebraucht werden kann"; der Mensch "muss bei allen seinen Handlungen jederzeit als Zweck an sich selbst betrachtet werden" (Kant 1785/1975, BA S. 66f.). Dies ist gleichbedeutend mit der "Autonomie und Würde ... der menschlichen und jeder vernünftigen Natur" (Kant 1785/1975, BA S. 79). Der Philosoph Ernst Tugendhat hat die dritte Formulierung des kategorischen Imperativs knapp zusammengefasst: "Instrumentalisiere niemanden" (Tugendhat 1993, S. 80). Man könnte vielleicht auch sagen: Jeder Mensch hat Würde und Eigenwert und darf nicht verzweckt werden. Dies zeigt sehr deutlich, dass Kant nicht bei einer rein subjektivistischen, nur für das Individuum selbst gültigen moralischen Position stehen bleibt, auch wenn er eine personale Formulierung wählt. Hier steht ein allgemein verbindlich gemeintes "Prinzip der Menschheit" (Kant 1785/1975, BA S. 69), ein Menschheitsgebot oder Menschheitsgesetz. Hier ist das angesprochen, was wir heute Menschenwürde nennen. Kants moraltheoretische Überlegungen sind für den zwischenmenschlichen Bereich entwickelt worden. Sie könnten aber möglicherweise auch eine bewusstere Reflexion menschlichen Handelns mit Relevanz für die Naturzusammenhänge, in die wir eingebunden sind, anleiten. Ich könnte überlegen, ob es in meinem alltäglichen Handeln Handlungsmaximen gibt, die Umweltfolgen in vernünftiger Weise im Blick haben. Wenn ich mögliche Maximen bzw. grundlegende Handlungsprinzipien erkenne, könnte ich den kategorischen Imperativ anwenden, um zu prüfen, ob sie moralisch vertretbar sind und ob sie -zumindest tendenziell -allgemeingültig sein könnten (Könnten sie allgemeines Gesetz werden? Könnte ich das wollen?). So könnte die bewusste Berücksichtigung von Umweltfolgen oder allgemeiner von Folgen des Handelns Fallbeispiel 3.1.1: Reduktion des persönlichen CO2-Beitrags Bekanntlich ist der CO₂-Ausstoß von technischen Prozessen, die Menschen nutzen, eine wesentliche Ursache für den stattfindenden Klimawandel. Ich könnte nach einer Handlungsmaxime suchen, die meinen CO₂-Beitrag auf ein vertretbares Maß reduzieren kann. Welche Jahresmenge an CO₂ -verursacht durch die ganze Menschheit -gilt nach wissenschaftlicher Erkenntnis noch als vertretbar? Diese Zahl dividiere ich durch die Gesamtzahl der Menschen und erhalte wohl etwa 2-3 Tonnen pro Jahr. Ich stelle als Handlungsmaxime auf, dass ich im Jahresmittel durch mein Handeln (Stromverbrauch, Wärmebedarf, Mobilität, Kleidung, Nahrung, Herstellung und Nutzung technischer Geräte, Infrastruktur in meiner Lebensregion etc.) nur die noch vertretbare CO₂-Menge der Weltbevölkerung pro Kopf freisetzen soll. Zur Umsetzung müsste ich herausfinden, wie viel CO₂ meine alltäglichen Verrichtungen und genutzten Güter freisetzen, und dann der Maxime entsprechende Verbrauchsreduktionen vornehmen, um meine CO₂-Freisetzung auf das notwendige Maß (wohl etwa auf die Hälfte oder ein Drittel) zu reduzieren. Es ist nun zu überlegen: Wäre das vernünftig? Kann ich das als Individuum erreichen? Kann dies ohne weitere gesamtgesellschaftliche Maßnahmen gelingen? Hält die gewählte Maxime der Überprüfung durch den kategorischen Imperativ stand? Wäre eine solche Pro-Kopf-Regel für alle Menschen in allen Erdregionen sinnvoll, fair und akzeptabel?
doi:10.1007/978-3-662-60435-9_3
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