Argumente für eine neue Erweiterungsstrategie – die Diskussion über die Aufnahmefähigkeit der EU
Kai-Olaf Lang, Daniela Schwarzer
2007
IG
Das Verhältnis von Vertiefung und Erweiterung in der Europäischen Union ist seit den Jahren 2004/2005 von zwei Paradoxen geprägt. Das erste: Seit der Ablehnung des EU-Verfassungsvertrags in den Referenden in Frankreich und den Niederlanden im Mai und Juni 2005 sind markante Fortschritte der Erweiterungspolitik gelungen. 1 Dies geschah, obwohl sich in den Referendumsdiskussionen eine Ablehnung vorangegangener und künftiger Erweiterungsschritte zeigt -und obwohl eine sogenannte
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... eit' in der EU Einzug gehalten hat, die sich neben einer wachsenden Aversion der öffentlichen Meinung gegenüber weit gespannten Beitrittsversprechungen in einer zunehmend kritischeren Haltung des Europäischen Parlaments manifestiert. Das zweite Paradox ist, dass zwar schon bei der politischen Bewertung der Ergebnisse des Nizza-Gipfels von 2000 hervorgehoben wurde, dass die EU auf dieser Grundlage nicht auf mehr als 27 Staaten anwachsen könne. Doch statt das Thema institutionelle Reformen -parallel zur ungebremst fortgeschriebenen Erweiterungspolitik -aktiv weiterzuverfolgen, zogen die EU-Staaten sich nach den gescheiterten Referenden zunächst in sichtbarer Hilflosigkeit in eine 'Denkpause' zurück. In längst nicht allen Hauptstädten ist seither in Bezug auf die weitere Vertiefung der Union, und noch weniger in Bezug auf die laufenden Erweiterungsprozesse ein deutlicher politischer Führungswille erkennbar. Diese Zusammenhänge und Widersprüche haben dazu geführt, dass die Frage der Erweiterungsfähigkeit seit dem Jahr 2005 verstärkt in den Vordergrund der Diskussion gelangt ist und sich politische Stimmen mehren, die weitere Erweiterungsschritte -auch bezüglich der Türkei, mit der Verhandlungen am 3. Oktober 2005 begonnen habenin Frage stellen. Dies legt die Frage nahe, ob nicht -trotz der vordergründigen Geschwindigkeit der Erweiterungspolitik -ein Paradigmenwechsel in der Erweiterungslogik der Union stattfindet, der die innere Solidität und Aufnahmefähigkeit der Gemeinschaft vor die mit der Aufnahme neuer Mitgliedsstaaten verbundenen Ziele setzt. Dieser Artikel argumentiert, dass dies bislang nicht der Fall ist. In der neuen Erweiterungsstrategie der EU-Kommission, die der Europäische Rat im Dezember 2006 unverändert angenommen hat, ist die interne Stabilisierung und Vertiefung zwar als Begleitpolitik weiter etabliert. Die Politik hat jedoch bislang die Frage unbeantwortet gelassen, wie eine konstruktive Neubalancierung beider Kalküle unter dem Primat der internen Handlungsfähigkeit ohne Verzicht auf die Transformationskapazitäten der Union und unter Berücksichtigung möglicher Blockaden des Beitrittsgeschehens durch Vetospieler bei der Ratifizierung der Beitrittsverträge zustandegebracht werden kann. Um dieses Problem zu lösen, sollte die EU eine Sequenzierung von Vertiefung und Erweiterung anstreben. Weitere Erweiterungsschritte sollten mit transparenten Kriterien zur EU-Aufnahmefähigkeit und einer stärkeren 1 1 Am 3. Oktober 2005 begannen die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei und Kroatien. Im Dezember 2005 hat die Europäische Kommission Mazedonien den Status eines Beitrittskandidaten verliehen, die Verhandlungen haben noch nicht begonnen.
doi:10.5771/0720-5120-2007-2-117
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