Arbeit am Gerechtigkeitsbegriff [article]

Matthias Möhring-Hesse, Universitaet Tuebingen
2020
Gewerkschaften gelten gemeinhin als Freunde der sozialen Ge rechtigkeit. Das allein begründet in machem Kreis und so man cher Zeitung ihren schlechten Ruf als Dinosaurier der bundes deutschen Politik. Und tatsächlich sind die Gewerkschaften dazu geradezu "verdammt", soziale Schieflagen politisch zu thematisie ren und eine Politik für eine gerechtere Verteilung zu betreiben. Denn als Interessenvertretung der Arbeitnehmer vertreten sie auch deren Einkommensinteressen; als Tarifpartei prägen sie
more » ... e Aufteilung des Volkseinkommens maßgeblich mit. So aber wird der Erfolg der Gewerkschaften, ihr politischer Wert-nicht nur von den eigenen Mitgliedern -vor allem an ihrem verteilungspo litischen Einfluss gemessen. Dabei ist "soziale Gerechtigkeit" für die Gewerkschaften ein politisches Werkzeug, martialisch gesprochen: ein Kampfbegriff. Treten sie doch im Namen der sozialen Gerechtigkeit an, die Interessen der abhängig Beschäftigten in dieser Gesellschaft durch zusetzen und deren Benachteiligung zu überwinden. Zugleich dient ihnen "soziale Gerechtigkeit" aber auch als Orientierungs b eg riff. Die damit verbundenen Ziele und Werte bestimmen ihre politische Programmatik-und verpflichten diese über die Inte ressenvertretung ihrer Mitglieder hinaus auf so etwas wie das allgemeine Interesse. Zwar sind die Gewerkschaften, zumal in Deutschland, keines wegs theoriefeindlich. Gleichwohl sind sie kein Philosophenzirkel über die genaue Bedeutung des Begriffs "soziale Gerechtigkeit". Und dennoch sind sie gegenwärtig gezwungen zu "philosophie ren", sich nämlich über die Bedeutung des Begriffs neu Rechen schaft zu geben. Denn seine beiden Funktionen sind gegenwärtig problematisch geworden: Der Kampfbegriff funktioniert in der vom Spie g el so diagnostizierten "Gerechtigkeitsfalle" 1 nicht mehr so recht. Weil in den politischen Auseinandersetzungen "soziale Gerechtigkeit" inflationär verwendet wird, dabei aber niemand mehr weiß, was wer damit meint, wird das begriffliche Werkzeug (auch) für die Gewerkschaften unscharf und damit unbrauchbar.
doi:10.15496/publikation-49181 fatcat:xn36ebqebfffhd42dilrkyp3di