Wer spricht beim Gedichtvortrag? [chapter]

Frieder von Ammon, Claudia Hillebrandt, Sonja Klimek, Ralph Müller, Rüdiger Zymner
2018 Grundfragen der Lyrikologie 1  
Wird in der Lyrikologie die Frage »Wer spricht das Gedicht?« aufgeworfen, bezieht man sich in der Regel auf den Adressanten bzw., in der bisherigen Terminologie, den textinternen Sprecher, und dies mit Recht, denn mit dieser Instanz ist eine ganze Reihe von ebenso relevanten wie intrikaten Problemen verknüpft, vor allem im Zusammenhang mit der Kategorie des ›lyrischen Ich‹.1 Nun liegt es aber auf der Hand (und ist entsprechend nicht unbemerkt geblieben), dass bei jeder Form von Lyrik, die
more » ... ch vorgetragen wird -was, historisch betrachtet, für ein beachtlich großes und keineswegs auf die Vormoderne beschränktes Korpus von Texten gilt -eine weitere Instanz hinzu kommt: der textexterne Sprecher bzw. Sänger,2 also derjenige, der ein Gedicht im Rahmen einer Aufführung3 vor Publi kum zu Gehör bringt (und der demnach, anders als der Adressant, ein Sprecher im eigentlichen, nichtmetaphorischen Sinn ist).4 Natürlich muss man diese beiden Instanzen -die jeweils auch von der Instanz des empirischen Autors zu unter scheiden sind -kategorial voneinander trennen, aus systematischen, aber auch aus didaktischen Gründen: um Missverständnissen wie dem einer von naiven Rezi pienten oft intuitiv vorgenommenen Gleichsetzung von (textexternem) Sprecher, (textinternem) Adressanten und (empirischem) Autor entgegen zu wirken. So weit dürfte in der Lyrikologie Konsens bestehen.5 Doch diese basale Trennung kann bei der Beschäftigung mit dem Sprecher nur ein erster Schritt sein, denn mit dieser Instanz ist eine Reihe von Problemen verknüpft, die in der Lyrikologie teilweise noch gar nicht als solche erkannt wurden. Im Folgenden soll ein erster Vorstoß in diese Richtung gewagt und ein spezifisches Teilproblem in den Blick genommen werden, das in das Zentrum der Frage nach dem Sprecher führt und das auch im Zusammenhang mit der Frage »Wer spricht das Gedicht?« von Bedeutung ist.
doi:10.1515/9783110520521-012 fatcat:fvaytwtl7fef5dbpvde2abm24a