Über die amphotere Natur der Carbonylgruppe

Erich Müller
1922 Angewandte Chemie  
Vortrag, gehalten in der Dresdner Chemischen Gesellschaft am 30. Juni 1922. (Eingeg. 22.18. 1922.) uber den Mechanismus der zahllosen Oxydations-und Reduktionsvorgange in wasseriger LUsung sind wir noch recht wenig unterrichtet. Nur einige der anorganischen Chemie zugehbrige lassen sich einfach als Ladungsanstausch auffassen; fur die groBe Mehrzahl aber, bei denen eine dnderung im Wasserstoff-oder Sauerstoffgehalt stattfindet, zu denen ausnahmslos die entsprechenden Reaktionen der organischen
more » ... emie gehbren, sind befriedigende Vorstellungen noch nicht entwickelt worden. Z. B. findet man die Oxydation der Carbonylgruppe zur Carboxylgruppe bei den Aldehyden durch folgende Gleichung dargestellt : Demnach h l t t e man sich vorzustellen, daB der Sauerstoff sich zwischen Kohlen-und Wasserstoff einsrhiebt, was nicht recht einleuchtet. In der Tat ist auch durch die Untersuchungen von W i e l a n d erwiesen worden, daB es sich nicht um eine derartige Aufnahrne von Sauersfbff handelt, sondern um eine Abgabe von Wasserstoff. Indessen kann auch diese Erkenntnis, so wichlig sie ist, nicht alle bei der Oxydation und Reduktion der die Carbonylgruppe enthaltenden Stoffe beobachteten Rrscheinungen in ihrem intimeren Verlaufe deuten. Urn hier weiter zu kommen, erschien mir das Studium ihres elektrolytischen Verhaltens am aussichtsvollsten, da hier zur Durchfiihrung von Oxydation und Reduktion nur Ladungen und keine Stoffe zugefiihrt werden und als geeignetstes Objekt zunlchst der so einfach gebaute und so reaklionsfahige Formaldehyd. Gleich zu Beginn der Versuche machte ich da eine sehr merkwiirdige Beobachtung. Ich fand, daB er an Kupfer-und Silberanoden i n alkalischer LUsung unter Einhaltung einer bestimmten Potentialgrenze zu Ameisenstiure und Wasserstoff, oxydiert wurde, g e m u der Bruttogleichung 2H,CO+2H,O+2F=2HCOOH+H,+2H'. Es lag nahe, hierin eine Analogie zu der bekannten Kolbeachen Reaktion zu erblicken 2CH.,C~OOH+2F=C,H8+2CO,+2H' 2 HHC(OH), + 2 F = H, + BHCOOH + 2H' wenn man annimmt, daB der Formaldehyd in wlsseriger LUsung ein Glykol bildet. Und da nach C r u m B r o w n und W a l k e r jene Synthese in der Weise erklart wird, dat3 nach 2 CH,COO' + 2 F = C2H, + 2 CO, zwei Acetylionen entladen werden, so entschloB ich mich zu der Hypothese, daB das Formaldehydhydrat elektrolytisch gespalten sei: . H, ,OH H, .OH u n d nahm zunlchst an, daB die Formaldehydanionen ebenfalls a n der Anode entladen wiirden : Spater gingich noch einen Schritt weiter. Aus der C r u m B r o w n -Walkerschen Gieichung kann man sich noch kein Bild machen iiber den Grund der Athanbildung; man versteht nicht, warum nicht vielmehr, .wie z. B. bei der Schwefelsiiure, zwei entladene Anionen zu einer Obersaure zusammentreten oder mit Wasser unter Rilckbildung von Essigsaure unter Sauerstoffentwicklung reagieren. Ich stelle mir deshalb vor, daB bei der Entladung e i n e s der in Rede stehenden Anionen dadurch, daB die dabei verfilgbar gewordene Valenz des Sauerstoffs am Kohlenstoff angreift, zunachst ein Zwischenkbrper entstebt, in dem der KohlenstofE iiberlastet ist und aus diesem Grunde einen Substituenten abstUBt, z. B.: Die Schwierigkeit, welche vielen die C r u m -B r o wnsche Vorstgllung bietet, dnR immer gleirhzeitig zwei Anionen an der Oberflache der Anode entladen werden miiBten, flllt hier fort und es handelt sich nur um die Vereinigung von 2CH, oder 2H, die aber erst in einiger Entfernung von der Elektrode zu erfolgen braucht. Angew. Chemie 1922. Nr. 98 Bei der Essigslure kann man die elektrolytische Dissoziation aus der Leitfahigkeit folgern; wiewohl nun von E u l e r auch fur den Formaldehyd die Funktion einer Saure nachgewiesen und sogar seine Dissoziationskonstante festgestellt wurde, so muB man sich doch wegen der Kleinheit derselben bewuBt bleiben, daB man sich bei den gemachten A n n a h m n auf ein heikles Gebiet begibt, namlich auf die lfbertragung der elektrolytiscben Dissoziation auf organische Verbindungen. Ich tue dies in der Folge in FBllen, wo im Gegensatz zum Formaldehyd nicht der geringste experimentelle Beweis vorliegt und werde erst am SchluB auf die Berechtigung hierzu im Zusammenhang zu sprechen kommen. Zunachst war fur mich diese Auffassung eine Arbeitshypothese und es galt zu erweisen, ob nicht auch durch rein chemische Oxydation jene elektrochemische nachzuahmen sei. In der Tat laBt sich der Formaldehyd in alkalischer L6sung durch Persulfat, Wasserstoffsuperoxyd, Ferricyankalium, Silber-und Kupferoxyd unter Wasserstoffentwicklung zu Ameisenslure oxydieren. Bei der Einwirkung von Kupferoxyd machte ich nun wieder eine unerwartete Beobachtung. Der Wasserstoff, der sich entwickelte, war seiner Menge nach etwas gr6Ber, als dem Oxydalionswert des verwendeten Kupferoxydes nach der Gleichung 2 H,CO + H,O + CuO = ZHCOOH + H, + Cu entsprach, was zu der Vermutung fiihrte, daB nebenher eine katalytische Zersetzung nach H,CO + H,O = HCOOH + H, durch das Kupfer sfattgefunden habe. Diese Auffassung lieB sich als zutreffend erweisen, als man metallisches Kupfer auf Forrnaldehyd in alkalischer Lbsung einwirken lie5; nur war der Umfang der Reaktion ein sehr geringer. Bei der Suche nach Metallen, welchen diese katalytische Wirkung in verstirktem MaBe eigen sei, stieB ich auf das Rhodium, welches aus alkalischen Formaldehydltisungen geradezu stiirmisch Wasserstoff entwickelt. Dieser Befund lenkte nun die Aufmerksamkeit zunachst ganz dieser merkwtirdigen Katalyse zu. Denn fur das ganze gestellte Problem muate die Beantwortung der Frage von groBer Bedeutung sein. Wie kbnnen bei der Katalyse dieselben Stoffe, Ameisensaure und Wasserstoff, entstehen wie bei der chemischen und elektrochemischen Oxydation? Die Antwort schien mir nicht anders ausfalien zu kbnnen als so: Es handelt sich auch bei der Katalyse um einen Oxydationsvorgang, und zwar da kein besonderes Oxydationsmittel zugesetzt wird, um eine innere Oxydation, die ich wie folgt auffasse: Das Wasserstoffion oxydiert das Formaldehydanion. Die Katalyse kann aber nur eine Reaktion vollbringen, welche schon a n sich verlaufen kann. Deshalb muB der Formaldehyd in der wasserigen Liisung ein metastabiles Gebilde sein. Den Grund, weshalb er nicht an sich zerfallt, sehe ich darin, da5 der Zwischenkbrper schon in kleiner Konzentration die Reaktion von rechts nach links zuriickzufiihren sucht. Es stellt sich demnach in jeder Formaldehydlbsung ein umkehrbares Gleichgewicht mit unendlicher Geschwindigkeit ein, welches allerdings als ein metastabiles gelten muB (in der Gleichung durch entgegengerichtete Pfeile dargestellt). Der Zwischenkbrper wirkt als Staukbrper, als chemischer Polarisator. A n diese umkehrbare Reaktion schlieBt sich dann die nicht umkehrbare Stabilisierungsreaktion a n (durch ejnen einfachen Pfeil dargestellt), deren Geschwindigkeit die der Gesamtreaktion bestimmt. Sie erfolgt an sich unmet3bar langsam, was den Formaldehyd besGndig erscheinen 1iiBt. Sie ist es, welche der Katalysator beschleunigt, vermutlich dadurch, daS er als Wasserstoffiibertrager wirkt. Bei der Elektrolyse wird an der Anode durch die erzwungene Entladung der Formiatauionen das Gleichgewicht zugunsten des Zwischenkbrpers verschoben. Mit seiner dadurch bedingten Konzen-trationserhBhung mut3 eine wachsende Polarisation der Anode Hand in Hand gehen. 'Nun wird freilich die Stabilisierungsreaktion, welche durch Vernichtung des Zwischenkbrpers eine Depolarisation bewirkt, mit der Konzentration des letzteren steigen. Solange aber dessen Bildungsgeschwindigkeit seine Zerfallsgeschwindigkeit iibertrifft, wlchst auch die Polarisation und fiihrt zu Werlen, bei denen die Reaktion H/ ' OH ' OH d. h. die Oxydation des Zwischenkbrpers, eine wasserstofflose Rildung von Ameisensaure, einsetzt. Nun hat sich gezeigt, daB der Staukbrper durch metallisrhes Kupfer zersetzt wird. Benut7.t man also eine Uupteranode und arheitet bci ma5iger Stromdichte, wodurch die Bildungsgeschwindigkeit klein gehalten wird, so kann der Fall eintretenwie er tatsachlich beobachtet wird -, daB die durch das Kupfer bewirkte Zerfallsgeschwin-
doi:10.1002/ange.19220359802 fatcat:ctwohx3befeavho7outeu5y4iu