Erfolg und Desaster zugleich. Der NATO-Gipfel in Brüssel und seine Konsequenzen

Rainer Meyer zum Felde
2018 SIRIUS - Zeitschrift für Strategische Analysen  
Am 11. und 12. Juli 2018 fand in Brüssel das dritte Gipfeltreffen der Staats-und Regierungschefs der NATO-Mitgliedsländer statt, das der Anpassung an die neue Weltlage gewidmet war. Es handelte sich um den ersten formellen NATO-Gipfel, an dem auch der neue US-amerikanische Präsident Donald Trump teilnahm. Die NATO muss sich vor allem mit der Politik Russlands auseinandersetzen, das seit dem Frühjahr 2014 territoriale Grenzen in Europa gewaltsam verändert und die seit Ende des Kalten Krieges
more » ... ehende internationale, auf westlich geprägten universalen Werten und Regeln basierende Ordnung nachhaltig verletzt hat. Bei den vorangegangenen Gipfeln in Wales (2014) und Warschau (2016) hatte die Allianz grundlegende Veränderungen ihres Verteidigungsdispositivs beschlossen: In Wales war dies das Sofortprogramm zur Rückversicherung der exponierten östlichen Verbündeten, der Readiness Action Plan. Mit ihm wurde die Reaktionsfähigkeit der NATO durch beschleunigte Entscheidungsprozesse erhöht und die Stärke der NATO Response Force verdreifacht. Zugleich wurde an dem seit den 1990er-Jahren praktizierten "umfassenden Ansatz" der Krisenprävention und Krisenbewältigung festgehalten, um Europa und seine Peripherie sowohl im Osten als auch im Süden zu schützen. Dazu gehören auch weiterhin zivil-militärische Einsätze zur Stabilisierung in Krisenregionen und zur Terrorismusbekämpfung. Zur Finanzierung dieser bis dahin nicht gekannten zeitgleichen Doppelanforderung einigte man sich auf ein von Deutschland (!) als Kompromiss vermitteltes Verteidigungsinvestitions-Versprechen (Defence Investment Pledge, DIP) mit drei Bestandteilen: Erstens, auf der "Inputseite", eine Erhöhung der Verteidigungshaushalte in Richtung auf die Zielgröße von zwei Prozent der Wirtschaftsleistung (BIP) binnen eines Jahrzehnts; dabei Bindung an den Zweck, die den Nationen zugewiesenen und akzeptierten NATO-Fähigkeitenziele zu erfüllen1. Zweitens eine Erhöhung des Investitionsanteils auf mindestens zwanzig Prozent für moderne Bewaffnung und Ausrüstung. Drittens, auf der "Outputseite", gewichtsgemäße Beiträge der Nationen zu NATO-geführten Mis sionen. In Warschau vollzog die Allianz einen zweiten, weiterreichenden Schritt: Nunmehr wurde der Schwerpunkt auf Abschreckung und Bündnisverteidigung gelegt und eine diesbezügliche Stärkung des Bündnisverteidigungsdispositivs der Allianz in allen Bereichen vereinbart. Es ging darum, nach zwanzig Jahren realer Einsatztätigkeit im unteren und mittleren Intensitäts-Spektrum (wie IFOR, SFOR, KFOR, ISAF) die verloren gegangenen Kräfte, Fähigkeiten und Fertigkeiten der meisten Streitkräfte der NATO-Nationen im hochintensiven Bereich der Bündnisverteidigung gegen einen nahezu gleichwertigen Gegner wiederherzustellen. Der Begriff der "Rekonstituierung von Bündnisverteidigung" hätte es noch deutlicher als der Begriff "Stärkung" getroffen, wäre allerdings wegen des impliziten Eingeständnisses, in dieser Kernfunktion nicht mehr über die nötige Substanz zu verfügen, politisch nicht akzeptabel gewesen. Das Hauptaugenmerk des jüngsten Gipfels in Brüssel sollte auf den erreichten Umsetzungsfortschritten der in Wales und Warschau beschlossenen Konzepte und auf politischen Vorgaben für eine gegebenenfalls nötige Nachsteuerung liegen. Wie sehr es dabei vor allem auf Deutschland ankam, war im Vorlauf von hohen NATO-Vertretern öffentlich dargelegt worden.2 Angesichts der insgesamt 1 Diese mehrfach konditionierte Zweckbindung der Zwei-Prozent-Zielgröße ist in der öffentlichen Diskussion in Deutschland bislang immer noch nicht hinreichend wahrgenommen worden. So bewertet zum Beispiel Stefan Kornelius das Zwei-Prozent-Ziel in offensichtlicher Verkennung dieser Konditionierung als eigentlich unsinnig, tritt dann aber dennoch für die Umsetzung dieser eingegangenen Verpflichtung ein. Siehe Stefan Kornelius (2018): Das Zwei-Prozent-Ziel, IP Internationale Politik 4/2018, 52-59: "Die Fixierung auf das Zwei-Prozent-Ziel ist so überwältigend und politisch nützlich, dass sie nicht so schnell enden wird. Sie ist gleichzeitig dumm und irreführend, weil sich die Komplexität von Bündnisverteidigung nicht auf eine einstellige Ziffer reduzieren lässt." (54) 2 So insbesondere vom Beigeordneten Generalsekretär für Verteidigungspolitik und Planung, dem deutschen
doi:10.1515/sirius-2018-4006 fatcat:tc4l64pd5bcw5jame6dhcajqwe