Zur Geschichte der polnischen Frage 1814 u. 1815

August Fournier
1899 Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung  
des Wiener Congresses. Es scheint als liabe die Geschichtsschreibung bisher einer Zeit zu wenig von ihrer Aufmerksamkeit geschenkt, in der sich gleichwohl die Keime wichtiger und in ihrer späteren Wirkung bedeutsamer Fragen nachweisen lassen, d. i. derjenigen Frist, die zwischen dem Abschluss des ersten Pariser Friedens und der Eröffnung des Wiener Congresses verlief. Freilich waren e» zunächst Wochen, in denen der Erschöpfung der Völker und ihrer Freude an der wiedergewonnenen Ruhe ihr Recht
more » ... rden musste, und nichts war natürlicher als dass sie Siegern und Besiegten vor Allem zur Erholung und zur Sammlung dienteu. Aber die Politik durfte nicht lange leiern. Ein ganzes grosses System der Uebermacht war zusammengebrochen, und ein anderes des Gleichgewichtes sollte au seitie Stolle treten, dessen Grundzüge erst noch zu bestimmen waren. An ungelösten Aufgaben fehlte es nicht, und wer auf dem Congres.s zu Wien, dessen Eröffnuug man binnen zwei Monaten, vom Ende Mai au gerechnet, anberaumt, dann aber aus Rücksicht auf die englische Pnrlameutssession um einige Wochen hinausgeschoben hatte, sich keinen üeberraschungen aussetzen wollte, der musste einen sichern Blick in die Situation zu gewinnen und, wofern er die Macht besass, sie zu beherrschen trachten. Wäre es nach Metternich, dem Leiter der österreichischen Staatsgeschäfte, gegangen, der Congress hätte später nicht in dem Umfange stattgefunden, deu er schliesslich in der Dauer von acht Monaten angenommen hat. Als die Armeeu <ler Verbündeten zu Ende des Jahres 1813 den Rhein überschritten und ihren Marsch bis tief nach Frankreich hinein fortgesetzt hatten, trat er im Hauptquartier zu Langres in den letzten Januartagen mit dem Antrage hervor, die Mächte sollten nicht nur die Friedensunterhandlungen mit Frankreich beginnen sondern sich auch untereinander über ihre besonderen Absichten verständigen. Der Moment zur Neuordnung Europa's wäre günstig, da ausser den Souveränen von ßussland, Oesterreich und Preussen mit ihren Cabinetten auch der Minister Englands Lord Castlereagh zur Stelle sei '). Metternich drang nicht durch. Kaiser Alexander I. von Russland war dagegen. Er drängte nach Paris uud wollte die Erörterung aller Sonderwünsche, welche, wie er meinte, nur die Harmonie stören und den Kriegszug aufhalten könnte, verschoben wissen bis man mit Frankreich abgerechnet hätte Unter den Sonderwünschen (pretentions individuelles), welche Disharmonie unter den Alliirten zu erzeugen vermochten, stand die polnische Frage obenan. Man konnte sie kurz als Absicht Alexanders -und insoferne war sie in der That ein ,individuelles" Verlangen -definiren, das von Napoleon aus preussischen und österreichischen Antheilen des alten Polen errichtete Hei-zogthum Warschau bis auf einen Strich, der im Kalischer Vertrag als Verbindung zwischen Ostpreussen und Schlesien Preussen zugestanden worden war, ganz für sich zu behalten und dasselbe, vereinigt mit den andern polnischen Ländern Russlands als "Königreich Polen" in Personalunion mit der russischen Krone zu setzen. Der erste Theil dieses Programms widersprach dem Vertrage von Reichenbach, welcher die Coalition der drei Ostmächte angebahnt hatte, denn dort war bestimmt worden, dass das Herzogthum im Einvernehmen dieser Mächte aufgetheilt und Preussen daraus verstärkt werden sollte; der zweite, den der Zar selbst seine "Lieblingsidee" nannte, musste durch die nationale Attraction namenlich Oesterreich beunruhigen, dessen letzter Besitz an polnischem Lande (Galizien) dadurch unsicher wurde; das Ganze aber war eine Vermehrung der russischen Macht in einem Masse, welches deren Uebergewicht in Europa ausser Frage stellte und mit dem Prinzipe des Gleichgewichts entschieden eontrastirte, auf welchem sich die Coalition der Gegner Napoleons vertragsmässig erhob ') Metternichs Denkschrift an K. Franz im Sb0rnik der russischen historischen Gesellschaft, XXXI. 349-355, wo sie irrthümlich vom 26. Januar 1814 datirt ist, während das Original im Wiener Staatsarchiv das Datum vom 27. tr&gt. 2) Sbornik, XXXI. 355 f. ») Im Artikel II des Reichenbaeher Vertrags vom 27. Juni 1813 einigte man sich über die Bedingungen, die man Frankreich stellte, »um das Gleich-Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 7/1/15 3:52 AM 446 August Fournier. Schon im Jahre 1805 hatte Alexander der Idee einer Wiederherstellung Polens unter russischem Scepter in der Politik Geltung zu verschaffen gesucht, und man kann sagen, dass er damals für dieselbe in den Krieg gezogen sei. Der Tag von Austerlitz machte den Plan zunichte, und nun belebte Napoleon die nationalen Aspirationen der Polen und machte dadurch das kriegsbegabte Volk seinen Fahnen dienstbar. Als dann der mächtige Zweibund Frankreich-Russland, der im J. 1807 geschlossen worden war, die ersten Risse zeigte, nahm Alexander seinen Plan von ehedem wieder auf und wandte sich Ende 1810 und Anfangs 1811 mit lockenden Briefen an seinen früheren Minister, den polnischen Fürsten Adam Czartoryski. Damals aber waren die französischen Sympathien im polnischen Volke noch viel zu stark, als dass der Ruf des Zaren ein Echo gefunden hätte i). Erst als der Zug Napoleons nach Russland ein klägliches Ende nahm und der Protector an der Seine viel an Macht und Geltung verlor, änderten sich die Verhältnisse. Nun war es Czartoryski, der sich dem Petersburger Hofe zu nähern suchte. Er sammelte im Herzogthum Warschau Adressen an den Kaiser, die sämmtlich die Einigung Polens unter russischer Aegide erbaten, und -ward erhört. Nur, schrieb der Zar an ihn zurück, dürften Oesterreich und Preussen von der Sache nichts erfahren, da sie sich sonst sofort in die Arme Frankreichs werfen gewicht und die Ruhe in Europa« wiederzugewinnen; darunter war ,1a dissohition du Duche de Varsovie et le partage des provinces qui le forment entre la Russie, la Prusse et 1' Autriche, d" apres des airangements ä prendre par ces trois puissances aans intervention du gouvernement franyais« und , 1'agrandissement de la Prusse en suite de ce partage«. Martens, Recueil des trait^s conclus par la Russie, III, 107.
doi:10.7767/miog.1899.20.jg.444 fatcat:gzcexolkbbhupoznhycezrdvh4