Quod scripsi scripsi (Ioh. 19,22): 'Einfach nur geschrieben'?
Ulrich Eigler
2019
Quod scripsi scripsi (Ioh. 19,22): 'Einfach nur geschrieben'? Quod scripsi scripsi nach der Vulgata beziehungsweise ὃ γέγραφα γέγραφα im Wortlaut des Johannesevangeliums1 -mit diesen Worten antwortet in der Darstellung des Johannesevangeliums (Ioh. 19,22) Pontius Pilatus lapidar auf die Bedenken, welche die Hohenpriester wegen der am Kreuz Jesu prominent angebrachten Tafel äußerten. Auf dieser waren, wie im Johannesevangelium überliefert, in griechischer, aramäischer und lateinischer Sprache
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... kunft und Name Jesu sowie der Grund seiner Verurteilung benannt: Iesus Christus Nazarenus Rex Iudaeorum. Doch ist Geschriebenes 'einfach nur geschrieben', wie es der Evangelist den römischen Statthalter hier vermuten lässt? In der dargestellten Handlung ist Pilatus bemüht, die Inschrift in den Alltag administrativer Praxis, in die Selbstverständlichkeit einer scheinbar nebensächlichen Begleiterscheinung römischer Hinrichtungspraxis, zurückzuführen. Er versucht einen Automatismus zu reklamieren, aus dem die Hohenpriester die Tafel herausgerückt hatten, indem sie kritisch auf sie hinwiesen. Sie selbst -und mit ihnen die implizite Leserschaft des Johannes -verharren vor der Schrift und nehmen sie nicht nur als in diesem Kontext alltägliche sprachliche Äußerung wahr. Im Moment des Übergangs von transitorischem Lesen zur Betrachtung wird die Schrift vom Mittel einer lapidaren Mitteilung zum Gegenstand. Für das "phonographisch reduzierte Schriftverständnis"2 des Pilatus besteht dagegen kein Unterschied zwischen dem, was er dienstlich nach gängiger Praxis verfasst hat, und was schließlich zu Häupten Jesu steht. In der Schrifttafel sieht er nur Buchstaben als "Platzhalter für die durch sie bezeichneten Dinge"3. Pilatus verkennt damit die semantische Eigengewichtigkeit dieser Tafel und ihrer Schrift, welche die Vorbeigehenden zwingt, zu verharren statt sie 'einfach nur zu lesen'. Zugleich werden die Lesenden durch diese Episode veranlasst, ihrerseits die Tafel nicht als Nebensächlichkeit gering zu schätzen. Wie in der erzählten Handlung die Betrachter, so verharren auch die Leser des erzählten Geschehens und geraten in den Bann der in ihren Blick gestellten Tafel, die mit Jesus und seinem Kreuz plötzlich eine sinnstiftende Einheit bildet. Sie treten gleichsam zurück und schauen "mit langem Blick"4 auf diesen Gegenstand und seinen Kontext, statt über ihn hinweg zu gehen
doi:10.5167/uzh-177430
fatcat:74mbnx2cqvgkvh7hydjh5q5ek4