Zeitdiagnose im Exil als vorläufige Deutung. Zur Einführung [chapter]

Rüdiger Hachtmann, Franka Maubach, Markus Roth
2020 Zeitdiagnose im Exil  
Rüdiger H acht m a nn / Fr a nk a M aubach / M a r k us Rot h Zeitdiagnose im Exil als vorläufige Deutung Zur Einführung 1940 zeichnete Hans Tombrock (1895-1966) eine heute wohlbekannte Szene. Sie zeigt den Ausschluss einer Frau aus der »Volksgemeinschaft«. Der Titel des auf dem Cover dieses Bandes abgedruckten Bildes, Marie Sanders, verweist zwar auf eine individuelle Geschichte, die typisierte Darstellung aber auf ein allgemeines Schicksal -so, wie Bertolt Brecht in seiner 1935 im dänischen
more » ... il entstandenen Ballade von der Judenhure Marie Sanders das Gesetz der Ausstoßung am Beispiel einer Szene verdichtete, die sich so oder ähnlich zugetragen haben konnte und zutrug. Tombrock, der 1933 Deutschland verließ, beschrieb mit den Mitteln adaptierender Bildkunst das entwürdigende Ritual, Frauen, die Beziehungen zu Juden hatten, zu stigmatisieren, indem eine fanatisierte Menge sie zwang, halbnackt durch die Straßen zu laufen, mit geschorenem Kopf und einem Schild um den Hals (»Marie Sanders war mit einem Jüd' im Bett«). Dicht umschlossen von der gaffenden Masse -Kinder, die mit dem Finger auf sie zeigen, Frauen, die grinsen, und Männer, die starren -, wird das Opfer immer größer in der ihm zugeschriebenen Schuld und Scham. Tombrock zeigt im Bild, worauf Brecht im Genre der Dichtung verwiesen hatte: was die Nürnberger Gesetze im Alltag bedeuteten, was das nationalsozialistische System aus den Menschen und mit ihren Beziehungen machte. Vielleicht gelang gerade ihm das besonders gut, denn Tombrock war nicht erst im Exil ein Wandernder Hans Tombrock: Marie Sanders, 1940 (© Fritz-Hüser-Institut für Literatur und Kultur der Arbeitswelt). https://doi.org/10.5771/9783835345379-9 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:27:19. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 10 rüdiger hachtmann / franka maubach / markus roth geworden, sondern schon vorher ein Mensch der Straße gewesen, ein Mann ohne Obdach, der aus kleinen Verhältnissen stammte, ein Vagabundenleben geführt und von seinen Zeichnungen gelebt hatte. Marie Sanders entstand 1940 in Schweden, wo Tombrock nach verschiedenen Stationen von der Schweiz über die Kanaren und die Sowjetunion seit 1937 im Exil lebte und Bertolt Brecht kennenlernte. Die Zeichnung deutet einen markanten Aspekt der Diktatur aus der Ferne. Gleichwohl rückt sie dicht heran an ein Verständnis der Funktionslogiken der nationalsozialistischen Gesellschaft und kann so als spezifische Variante der Zeitdiagnosen im Exil gelten. »Exil« meint in diesem Zusammenhang vor allem die politisch motivierte Flucht ins (oft benachbarte) Ausland. 1 Der Aufenthalt dort sollte von vorübergehender Dauer sein, war mithin ein »Wartesaal« (Lion Feuchtwanger), den man möglichst bald wieder verlassen wollte. Oft genug aber verlängerte sich das Exil durch Weiterreise und Niederlassung auf lange Sicht zur Emigration (und aus der Sicht der Ankunftsländer wurden die Neuankömmlinge zu Immigranten). Weil die Übergänge zwischen den Begriffen fließend sind, werden sie hier wahlweise verwendet; allerdings steht das politische Exil im Zentrum der Beiträge. Über angemessene Kategorien, die gerade in diesem Zusammenhang lediglich Idealtypen darstellen, wurde und wird in einem Forschungs feld breit diskutiert, das sich in der Bundesrepublik, aber auch in der DDR seit den 1970er Jahren entwickelt und ausdifferenziert hat. 2 Ziel dieses Bandes ist, die Bandbreite der Zeitdiagnosen aufzuzeigen, die aus Deutschland vertriebene Exilanten im Kern zwischen 1933 und 1945 im Aufnahmeland vorlegten. Präsentiert werden überwiegend eher unbekannte »Zeitdiagnosen«, also zeitgenössische Gegenwartsdeutungen, die zu begreifen suchten, was unter der NS-Diktatur geschah, und dies auf sehr unterschiedliche Art intellektuell verarbeiteten. Der Schwerpunkt liegt, um eine Formel von Wolfgang Benz aufzugreifen, auf dem »Exil der kleinen Leute« und ihren bisher weitgehend unbekannten »kleinen Werken«. Der Begriff der Zeitdiagnose wird in diesem Zusammenhang weit gefasst. Er fokussiert die subjektive Perspektive der Exilanten und zielt nicht unbedingt auf umfassend angelegte Analysen des NS-Herrschafts-und -Gesellschaftssystems wie Franz L. Neumanns Behemoth oder Ernst Fraenkels Doppelstaat. Die »kleinen Werke« des Exils können auch vorläufige Einschätzungen sein, die assoziativen Impressionen nahekommen, sich auf Teilaspekte des Lebens unter der NS-Herrschaft beziehen und das eigene Schicksal, die Gründe für die Vertreibung, die Umstände der Flucht und den oft langen Weg ins Aufnahmeland einzuordnen versuchen.
doi:10.5771/9783835345379-9 fatcat:aremwcna2naf5dkc3puiwcsyda