Der Theosoph Hermann Rudolph : ein Lehrer aus Berufung [article]

Bernadett Bigalke, Universitaet Tuebingen, Universitaet Tuebingen
2020
Die Alternativbewegungen um 1900 (z. B. die esoterische Szene und die Lebensreformbewegung 1 ) waren dicht vernetzt, obwohl sie bezüglich ihrer Ideen und sozialen Trägerschichten heterogen waren. Esoteriker 2 und Lebensreformer wurden von vielen Zeitgenossen als "deviant" wahrgenom-1 Als Kern der Lebensreform-Bewegung werden in der gegenwärtigen wissenschaftlichen Literatur zum Thema Vegetarismus/Reformkost, Naturheilkunde/Impfgegnerschaft, Freikörperkultur, Tierschutz und Antialkoholismus
more » ... rieben. Die durch Industrialisierung, Urbanisierung und Verwissenschaftlichung verursachten soziokulturellen Umwandlungsprozesse wurden von diesen Kreisen zivilisationskritisch und teils kulturpessimistisch gedeutet und eigene Reformmodelle entwickelt. Interessanterweise ist in den Polemiken der Lebensreformer oft eine implizite oder explizite Kritik an den Großkirchen zu finden. Gemeinsam war ihnen auch der Ansatz, partikulare Zivilisationsschäden ganzheitlich zu deuten. In den programmatischen Schriften der Lebensreformer wird zur Herstellung eines neuerlichen "harmonischen Dreiklangs" die Rückkehr zur "Natur" als Allheilmittel gepriesen. Das Resultat waren "naturgesetzliche" Verhaltens-, Nahrungs-und Medikationsweisen. Die Lebensreformer erhofften sich eine Veränderung von Staat und Gesellschaft, insbesondere durch "Selbsthilfe", die die schädlichen Auswirkungen struktureller Entwicklungen bekämpfen sollte. Ziel vieler Gruppierungen war die individuelle und zugleich kollektive Erlösung von psychischer und physischer Krankheit. Der Begriff der "Heilung" war dabei häufig mit religiöser Erlösungssemantik aufgeladen. Um diese Kernbewegungen herum -und mehr oder minder mit ihr vernetzt -existierten ähnliche Konzepte in der Ästhetik (z. Kfin de steck), Religion, Philosophie, Literatur, (Natur-)Wissenschaft, Pädagogik und Emanzipations-und Sozialreformbestrebungen. Vgl. Wolfgang Krabbe, Lebensreform/Selbstreform, in: Diethart Kerbs (Hrsg.), Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880-1933, Wuppertal 1998,73-75. 2 Ich schließe mich hier der Definition von Esoterik von Kocku von Stuckrad an: "Was einen Diskurs esoterisch macht, ist die Rhetorik einer verborgenen Wahrheit, die auf einem bestimmten Weg enthüllt werden kann und gegen andere Deutungen von Kosmos und Geschichte -nicht selten die der institutionalisierten Mehrheit -in Stellung gebracht wird. Es geht also eigentlich nicht um Geheimhaltung, sondern um Enthüllung des Verborgenen." Ein zweiter Punkt ist der Anspruch, über ein "absolutes Wissen" zu verfügen. "Oft verbindet sich dieser Wissensanspruch mit der Betonung individueller Erfahrung, in denen ein Suchender durch außergewöhnliche Bewusstseinszustände Erkenntnis höherer Wahrheiten erlangt." Esoterische Entwürfe denken die materiellen und nicht-materiellen Ebenen der Wirklichkeit monistisch als Einheit, deren Verbindungen es zu erforschen gilt. Dieses Entsprechungsdenken konstruiert Zusammenhänge zwischen Transzendenz und Immanenz, Planeten und historischen Ereignissen (Astrologie), Seele und Körper, Geist und Materie etc. Kocku von Stuckmd, Die Esoterik in der gegenwärtigen Forschung. Überblick und Positionsbestimmung, in: zeitenblicke 5 (2006) Nr. 1,1-9, hier 6-8. 3 Im Jahr 1911 umfasste der Sächsische Lehrerverein 14.884 Mitglieder, fast die gesamte sächsische Volksschullehrerschaft. Vgl. Die 16. Hauptversammlung des Sächsischen Lehrervereins in Leipzig, in: Leipziger Neueste Nachrichten (02.10.1911), zitiert nach Christiane Joiko, Der Leipziger Lehrerverein und seine Stellung zum Religionsunterricht unter besonderer Berücksichtigung des Jahres 1919, Magisterarbeit am Religionswissenschaftlichen
doi:10.15496/publikation-42390 fatcat:mwa77iwmdzcxrhtnc27pkdrbfy