Technologieversprechen Industrie 4.0

Hartmut Hirsch-Kreinsen
2018 WSI-Mitteilungen  
I n der politischen und wissenschaftlichen Debatte hierzulande und in der wirtschaftlichen Praxis kommt man am Begriff In dus trie 4.0 kaum noch vorbei. Ihm widmen sich zahlreiche Publikationen und Veranstaltungen, viele Unternehmen orientieren ihre Strategien und Innovationsmaßnahmen an ihm. Oft wird der Diskurs unter der Perspektive geführt, dass neue Anwendungspotenziale digitaler Technologien völlig neue Formen der Produktion und des Absatzes industrieller Güter eröffnen würden, sodass von
more » ... iner absehbaren vierten industriellen Revolution gesprochen werden könne. Die vielfach geteilte Auffassung lautet, dass Digitalisierung aufgrund der schnellen Technologieentwicklung auch für industrielle Prozesse eine geradezu unausweichliche Option sei. Dabei werden spektakuläre ökonomische Gewinne und die Lösung vielfältiger gesellschaftlicher Herausforderungen prognostiziert. Zudem wird betont, dass In dus trie 4.0 zu sicheren Arbeitsplätzen, guter Arbeit, einer deutlichen Verbesserung der Work-Life-Balance und einer Bewältigung der demografischen Probleme führen werde. Insofern weist das Konzept von In dus trie 4.0 innovationstheoretisch alle Merkmale einer promising technology auf, eines Technologieversprechens also, das ausgeprägt technikoptimistische Züge in Hinblick auf die sozio-ökonomischen Konsequenzen digitaler Technologien trägt. Damit steht In dus trie 4.0 in der Tradition früherer technikzentrierter Diskurse -etwa des Diskurses über die Informationsgesellschaft -, die ebenfalls weitreichende positive gesellschaftliche Konsequenzen in Aussicht stellten. Inwieweit dieser Optimismus gerechtfertigt ist, dürfte freilich mehr als fraglich sein. Denn unüberhörbar sind im Kontext von In dus trie 4.0 auch pessimistische Erwartungen, die vor allem hohe Arbeitsplatzverluste durch die digitalen Technologien befürchten. Zudem wird vor Gefahren der Dequalifizierung, einem deutlich erhöhten Kontrollpotenzial, einer forcierten Flexibilisierung und Prekarisierung sowie wachsenden Belastungen bei der Arbeit gewarnt. Indes sind jenseits aller technikoptimistischen und -pessimistischen Übertreibungen Richtung, Intensität und Reichweite des sozialen und ökonomischen Wandels bislang nur schwer absehbar. Denn viele der vorliegenden Studien und Prognosen beziehen sich allein technikzentriert auf die Einschätzung denkbarer Anwendungspotenziale der neuen Technologien, ohne ihre tatsächlichen, komplexen und teilweise widersprüchlichen Einsatzbedingungen zu erfassen. Im Industrie-4.0-Diskurs werden auf Joseph Schumpeter zurückgehende Basiserkenntnisse der Innovationsforschung völlig übersehen : dass nämlich die Innovation einerseits und die Diffusion und Implementation neuer Technologien andererseits unterschiedlichen ökonomischen, sozialen und politischen Bedingungen gehorchen. Für den Wandel von Arbeit ist daher nicht so sehr die Erfindung einer neuen Technologie entscheidend, sondern die Frage, wie die neuen technologischen Potenziale in Unternehmen tatsächlich genutzt und Arbeitsprozesse konkret gestaltet werden. Dazu liegen inzwischen erste valide Forschungsergebnisse vor (wovon auch das vorliegende Heft der WSI-Mitteilungen einen Eindruck vermit-telt). Sie zeigen, dass digitale Systeme auf breiter Front allenfalls in einigen wenigen technologieintensiven Vorreiterunternehmen anzutreffen sind, während die Masse insbesondere der kleinen und mittleren Unternehmen mit eher inkrementellen Innovationsmaßnahmen einen seit Jahren erkennbaren technologischen Pfad weiterverfolgt. Vielfach werden damit die gegebenen technisch-organisatorischen Strukturen optimiert und standardisiert. In Hinblick auf den Wandel von Arbeit handelt es sich hier keineswegs um die erwarteten oder befürchteten disruptiven Veränderungen. Vielmehr sind -bislang jedenfalls -oftmals nur marginale, als "strukturkonservativ" anzusehende Anpassungen an die neuen technologischen Bedingungen erkennbar. Allerdings blendet der bislang vorherrschende Fokus auf den industriellen Shopfloor weitergehende Fragen aus. Zu fragen ist etwa, wie sich die Arbeit in Planungs-und Engineering-Bereichen verändert und welche Rückwirkungen auf überbetriebliche Produktions-, Logistik-und Serviceketten sowie betriebliche Standortentscheidungen auftreten werden. Denn gerade in Hinblick auf diese Zusammenhänge werden beispielsweise neue "smarte" Informations-und Planungssysteme deutliche Veränderungen ermöglichen. Zudem bedürfen die mit In dus trie 4.0 verbundenen arbeitspolitischen Herausforderungen auch in Zukunft der intensiven Diskussion. So existieren in Hinblick auf die nun erforderlichen Kompetenzen und Politikansätze der Betriebsräte vielfältige Konzepte und breit angelegte Maßnahmen, die einer ständigen Weiterentwicklung bedürfen. Zugleich ist bislang weitgehend unklar, wie sich Managementpositionen und Führungsstile wandeln (müssen) und welche Konsequenzen sich damit in betriebspolitischer Hinsicht verbinden. Zu fragen ist vor allem auch, welchen politischen Stellenwert hierbei der seit einiger Zeit im Kontext von In dus trie 4.0 begonnene Demokratisierungs-und Humanisierungsdiskurs letztlich hat. Schließlich dürfen mögliche beschäftigungsstrukturelle Verwerfungen mit problematischen sozial-und gesellschaftspolitischen Konsequenzen nicht vernachlässigt werden. Zu nennen sind hier z. B. prekäre Formen des Cloud-und Crowdworking auch im industriellen Sektor oder die Möglichkeiten der technischen Substitution von einfacher Arbeit, die Arbeitsplätze für den relativ hohen Anteil von Geringqualifizierten gefährdet. Um solchen und möglicherweise weiteren problematischen Konsequenzen der Digitalisierung entgegenzuwirken, ist es daher aus Arbeitnehmersicht unabdingbar, den Industrie-4.0-Prozess weiterhin intensiv zu begleiten, um Weichenstellungen für wünschenswerte Gestaltungsoptionen für Arbeit zu identifizieren und arbeitspolitisch zu nutzen. ■ HARTMUT HIRSCH-KREINSEN, Prof. i. r. für Wirtschafts-und Industriesoziologie sowie Leiter des Forschungsgebiets Industrie-und arbeitsforschung an der tU Dortmund. Forschungsschwerpunkte : Wirtschaftlicher Strukturwandel, Digitalisierung von arbeit, industrielle Innovationsprozesse. @
doi:10.5771/0342-300x-2018-3-166 fatcat:fhbc6hnw4jbwzfxjjwrnajz6t4