Kursus der gynäkologischen Technik. I. Die gynäkologischen Untersuchungen

H. Freund
1922 Deutsche Medizinische Wochenschrift  
Die Behandlung der Frauenleiden Ist jells wegen der Schwierigkeit einer eingehenden Diagnose, teils wegen der vielfach operativen Elfordernisse mehr und mehr in spezialistische Hände übergegangen. Das ist nicht überall wünschenswert, denn mit der Verminderung der therapeutischen Betätigung geht gewöhnlich auch die Uebung im Diagnostizieren und das Interesse an dem betreffenden Gebiet zu ruck, während anderseits eine Reihe von gynäkologischen Krankheiten nur im Zusammenhang mit Allgemeinleiden
more » ... chtig beurteilt und angegriffen werden kann, Zusammenhänge, die dem Spezialisten leichter entgehen. Es ist daher wichtig, immer wieder auf Zustände und Kuren hinzuweisen, bei denen auch der nicht spezialistisch ausgebildete Praktiker mit Erfolg gynäkologisch tätig sein kann. Dabei handelt es sich in der Hautsathe um unkomplizierte Fälle von Entzündungen ini Becken, besonders solche chronischer Art, um Gonorrhoe, Falschiagen und Erschlaffungszustände, immer unter der Voraussetzung, daß der Behandelnde die Diagnostik so beherrscht, daß er sich auf seine positiven und negativen Befunde verlassen kann. Ganz allgemein stelle ich den Grundsatz vornhin: selbst be. h audi n. So zeitraubend und oft gleichförmig es sein mag, ,Tam-Pons einzulegen, Injektionen zu geben u. dgl., ich selbst gebe das nie aus der Hand, weil nur eine fortlaufende Kontrolle über das Fortführen, Aendern oder Aufgeben eines Heilverfahrens entscheidet. Die äu ß e r e E inri ch tun g zur gynäkologischen Untersuchung und Behandlung unterscheidet sich von andern durch die häufige Notwendigkeit eines Untersuthungsstuhls. Ein solcher schreckt viele Frauen und Mädchen zurück und sollte, wenn irgend möglich, bei den ersten Untersuchungen nicht benutzt werden. Im Sprechzimmer genügt ein niedriges Ledersofa; Ist der Stuhl notwendig, dann ist ein zweites Zimmer wünschenswert, entweder im selben Hause oder in einem Krankenhaus (Poliklinik), wo neben den erforderlichen Hilfsmitteln geübtes Personal zur Assistenz bereit zu sein pflegt. (Solche Einrichtungen dürfen demnach nitht unter den Begriff einer "zweiten Sprechstunde" gebracht werden.) Der Schröder-Veitsthe Stuhl hat sich mir immer bewährt, es genügt aber ein kurzer Tisch mit horizontal angefügten Beinstützen. Ein festes, unter den Steiß der Patientin zu schiebendes Lederkissen erleichtert das Untersuchen oft etheblich. Bettlägerige können auf dem Längsbetf, bequemer aber auf dem Querbett untersucht werden. Fast allgemein bevorzugen wir aber die Steißrückenlage; die Frau zièht die in deu Knieen flektierten Schenkel gegen den Bauch und verringert so durch Erheben des Steißes die Beckenneigung. Selten nur erweist sich die Steinschnittlage (Steißriickenlage mit halb aufgerichtetem Oberkörper) als vorteilhaft. Dagegen erscheint die Knie-Ellenbogenlage für Beobachtungen an der Portio, dem Mastdarm, auch an der Blase sehr geeignet. Unteruchungen in Beckenhochiagerung erleichtern Tastbefunde im Becken, auch kann man bei besonders schwierigen Feststellungen -Nachweis von Stielen, mobilen ûeschwülsten -die Schenkel der am Boden liegenden Patientin von zwei Helfern stark in die Höhe heben lassen, wobei das Becken sich ganz entleert. Hat man Assistenz, so eignet sich die Seiten-Bauchlage für Spiegeluntersuchungen und die Ietasfung der seitlichen und hinteren Beckenwand. Für letztere habe ich auch die Untersuchung an der stehenden Frau empfohlen, wobei mit der einen Hand per vaginam, mit der anderen durch die Hinterbacke zugefühlt wird. Von der leicht zu erkennenden Spina ischiadica ausgehend, verfolgt man das Lig. spinoso-und tuberososacruin, fühlt die inneren Beckenmuskein, den Druckpunkt des N. ischiadicus direkt oberhalb der Spitze der Spina ischii, alles Teile, deren abnormes Verhalten nicht selten Schmerzen und Beschwerden sonst verborgener Natur aufklärt. Die Untersuchung in Narkose ist nicht häufig indiziert und für den Geübten meist nicht ergebnisreicher als eine planvolle, eventuell wiederholte Exploration ohne Narkose. Kranke, die die Bauchdecken stark spannen, kann man durch Geduld, Belehrung und Ablenkung schließlich duldsamer machen, während man durch starkes Eindrücken und Ungeduld den Widerstand nur vermehrt. Eine aus dem Schultergelenk kommende halb drückende, halb kreisförmig reibende Bewegung -wie bei der gynäkologischen Massage -Ist ein vorzügliches schonendes Mittel, die Spannung der Bauchdecken zu überwinden. Zweifellos reizt die rektale Untersuchung weniger zum Widerstand als die vaginale, insbesondere bei nervösen Frauen und jungen Mädchen, welch letztere man überhaupt für gewöhnlich vom Mastdarm aus (mit Fingerling) tuschieren soll. Diese Methode verdient in der Praxis größere Aufmerksamkeit, ist sie doch vielfach ergebnisreicher als die Narkosenuntersuchung, jedenfalls bei Adnexkrankheiten und retrouterinen Prozessen. Mitunter orientiert man sich dabei-bezüglich der einzelnen Organe, indem man gleichzeitig den Daumen in die Scheide einführt, sodaß man z. 13. die Porfio zwischen Daumen und Zeigefinger bekommt. Die Röntgenuntersuchung kommt für gynäkologische Zwecke im allgemeinen nicht in Frage, für komplizierende Erkrañkungen der 1-larnorgane eher einmal, für welche jedoch die Kystoskopie unentbehrlich geworden ist. Sie sollte viel häufiger, vor größeren Operationen, jedenfalls beim Karzinom herangezogen werden. -Die Lufteinbiasung ins Peritoneuni ist in der Praxis nicht durchführbar, im 'übrigen auch entbehrlich. Im ärztlichen Behandlungszimmer muß vorhanden sein : fi I eß e n d e s Wasser, Einrichtung für Heißwasser, für das Auskochen von Instrumenten, Desinfektion, Aufnahme gebrauchter Stoffe usw.; von I n s t r u m e n t e n : Uterussonde, eine vordere und hintere Platte des Simonschen Spekulums, ein Satz Milchglasspiegel, Kornzange, Kugeizange, Platinöse, Katheter und das Nötigste zum Urinunter. suchen, wenn möglich auch zum Mikroskopieren. Ferner ein voll. ständiges Instrumentarium zu Spülungen, Aetzungen, Dilatation, Ausschaben, Ausstopfen, Massage, Belichtung und Erhitzung. Gang der Untersuchung. Zur Aufnahme der Anamnese, die hier, wie überall, voranzugehen hat, ist es wünschenswert, mit der Kranken allein zu verhandeln. Hat man sie durch aufmerksames Zuhören die erste Befangenheit überwinden und durch Interesse zeigende Bemerkungen vielleicht schon Zutrauen gewinnen lassen, so kann man seine Nachforschungen auf Dinge ausdehnen, die im Beisein Dritter peinlich empfunden, ungenügend beantwortet oder niedergeschlagen werden. Koitus und Versuche dazu, Abortus und Abtreibung, heimliche Geburten, Masturbation, Perversitäten, Infektion, Impotenz, Brutalisierungen u. a. rn. erfährt man nur unter vier Augen. Auch eine Aussprache, die die Kranke an derlei Dinge knüpft, känn nur ohne Zeugen erfolgen und oft schon direkt befreiend wirken. Da die Mehrzahl der gynäkologisch Kranken an entzündlichen Teränderungen leidet, erinnert man sich, daß ätiologisch drei Hauptgruppen: die puerperalen, gonorrhoischen und tuberkulösen Formen vorwiegend in Frage kommen, und richtet darauf zunächst seine anamnestischen Nachforschungen. Es scheint mir aber, daß dem Einfluß der akuten Infektionskrankheiten, auch der der Kinderjahre, zu wenig Gewicht beigelegt wird. Sie hinterlassen recht oft Veränderungen im Genitalapparat. Aehnlich wirken schwere Darmkatarrhe und chronische Stuhiverstopfung. Diese Momente sind noch spezieller wichtig, wenn es sich um infantile Personen handelt, die aber auch ohne solche Anamnese gewöhnlich wegen Dysmenorrhoe und Un. fruchtbarkeit Rat suchen. Schon deshalb, aber auch wegen Blutungen und Ausflüssen ist die genauste Erfragung betreffs des ersten und des weiteren Auftretens und Ablaufs der Menstruation unerläßlich. Gewöhnt man sich an einen planmäßigen Gang der Untersuchung, so wird weniger vergessen und übersehen. Wir beginnen stets mit der Inspektion der äußeren Geschlechtsteile, die auch bei prüdet und ängstlichen Kranken durchgesetzt werden muß. Denn schon die Entwicklung der Teile kann uns wichtige Aufschlüsse geben, so besonders beim Infantilismus, wobei wir die schlechte Behaarung, die Fettarmut des Mons Veneris und der schmalen Labia 598 DEUTSCHE MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT Nr. 18 Dieses Dokument wurde zum persönlichen Gebrauch heruntergeladen. Vervielfältigung nur mit Zustimmung des Verlages.
doi:10.1055/s-0028-1132958 fatcat:gcftcmp3pvgbzay4qanreru2gu