Kriegsparalyse und Dienstbeschädigung
L. Weber
1917
Deutsche Medizinische Wochenschrift
Fae11irzt1ic1)er Beirat für Psychiatrie und Nervenlieilkunde im Bereich des XIX. Armeekorp. Die Frage, ob eine Paralyse durch Kriegsereignissekörperliche oder seelische Strapazen, Verwundungen und andere Traumata -hervorgerufen oder verschlimmert werden kann, ist namentlich durch eine Arbeit von Weygandt (6) über dieses Thema wesentlich geklärt worden. Denn Weygandt ist nicht bei einzelnen Fällen stehen geblieben, sondern hat sein gesamtes Material von Paralysen der Feldzugsteilnehmer
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... h darauf geprüft, ob es im Bezug auf Beginn, Symptome oder Verlauf sich durchschnittlich von den Friedensparalysen unterscheidet. Und er kommt zu dem Resultat, daß die Paralyse der Felclzugsteilnehmer im Durchschnitt schneller und schwerer verläuft und rascher zum Tode führt als die Paralyse der Friedensverhäjtnisse. Allerdings stützen sich diese Ergebnisse nur auf eine Statistik von 44 Fällen. Ergänzt werden die Feststellungen Weyga n d ts durch die Angaben anderer Autoren: Wag n e r (4) fand erhöhten Eiweií3gehalt und stärkere Zelivermehrung im Liquor der Kriegsparalytiker, Edel und Piotrowski (1) erwähnen das sehr jugendliche Alter der Kriegsparalytiker und bemerken, daß häufig die klassischen klinischen Symptome oder der positive Blut-Wassermann noch fehlten, während der Liquor-Wassermann schon positiv war. Allerdings werden diese Beobachtungen noch nicht allseitig bestätigt, und Meyer (3) hat in seinem Referat auf der Kriegstagung der Deutschen Psychiater (September 1916) über die Dienstbeschädigungsfrage sich ablehnend verhalten gegenüber der Annahme, daß der Kriegsdienst im allgemeinen eine Abnutzung des Nervensystems im Sinne der Edingerschen Aufbrauchstheorie bedinge, wodurch der Ausbruch einer Paralyse auf dem durch die Lues vorbereiteten Boden erleichtert werde. Wenn nun Weygandt auf Grund seiner Feststellungen zu dem Schluß kommt: "es gibt eine Kriegsparalyse", so meint er das, wie aus seinen weiteren Ausführungen deutlich hervorgeht, nicht in dem Sinne, daß jede bei einem Kriegsteilnehmer auftretende Paralyse jetzt ohne weiteres als Folge des Kriegsdienstes und als entschädigungspflichtig angesehen werde. Sondern man soll sich durch die Tatsache, daß jede Paralyse die Folge einer syphilitischen Infektion ist, nicht bestimmen lassen, nun ohne weitere Prüfung die Frage der Dienstbeschädigung zu verneinen, sondern soll jeden Fall noch einmal besonders prüfen. Die lJnfallversicherungspraxis im Frieden hat uns hier Anhaltspunkte gegeben, die im Laufe der letzten Jahre ziemlich einheitlich von den Sachverständigen angewendet wurden. Es liegt kein Grund vor -hierin stimme ich Wcygandt nicht ganz zu -, von diesen Grundsätzen der Unfallversicherungspraxis bei der Beurteilung der Kriegsparalysen abzugehen. Diese Grundsätze sind von K. Mendel (2) formuliert worden. Ich (5) habe sie schon 1906 in einem Referat für den In.ternationalen Kongreß für Versicherungsmedizin dahin zusamxnengefaß t: Ursächlicher Zusammenhang zwischen Unfall und Paralyse ist wahrscheinlich bei schwererer Gewalteinwirkung oder starkem psychischen Shock, bei nicht zu langer Zwischenzeit zwischen Unfall und Ausbruch der Paralyse, foudroyantem, abgekürztem Verlauf der Paralyse, Besonderheiten im anatomisch-mikroskopischen Befund. Nicht alle diese Bedingungen müssen gleichzeitig erfüllt sein, sondern ihre Kombination muß so sein, daß sie eine deutliche Besonderheit des Krankheitsbildes darstellen, die auf eine weitere Ursache neben der luetischen Infektion hinweist. Wenn dann vor dem Unfall keine Paralysesymptome bestanden, muß die Paralyse als Unfailfolge angesehen werden; bestanden schon solche Symptome, so ist Verschlimmerung der Paralyse durch den Unfall anzunehmen. Ich wußte auch nicht, warum die Entscheidung nach diesen Gesichtspunkten auch im Licht der syphilitischen Aetiologie der Paralyse nicht eine wissenschaftliche Berechtigung haben soli. Die Tatsache, daß die Paralyse auf einer Spirochäteninvasion in das Gehirn beruht, schafft die andere Tatsache nicht aus der Welt, daß gerade bei den frischen Fällen von Paralyse die produktiven Prozesse an der Gefäßwand und im adventitiellen Raum sehr stark und ausgebreitet sind. Weshalb soll eine Hirnersehütterung, die mit mechanischen Veränderungen an der Gefäßwand, Blutungen in den adventitiellen Raum einhergeht, nicht imstande sein, diesen durch die Spirochäten wohl hervorgerufenen Prozeß mächtig aufflammen zu lassen und über weitere Gefäßbezirke zu verbreiten, während ohne eine solche äußere Schädlichkeit die einzelne Spirochätenkolonie noch jahrelang oder dauernd im Gehirngewebe lokalisiert geblieben wäre und keine sgthwereren Gewebsveränderungen gesetzt hätte. Das entspricht vollkommen den hirnpathologischen Anschauungen, und direktere Beweise für den Zusammenhang einer Organerkrankung mit einem Trauma haben wir nirgends. Ich meine also, man kann bei der Beurteilung der Dienstbeschädigung der Kriegsparalysen die Grundsätze der Unfallversicherungspraxis des Friedens anwenden. Zu dem Nachweis paralytischer Symptome schon vor dem als Dienstbeschädigung aufzufassenden Ereignis ist nichts Neues zu sagen. In den wenigen Fällen, in denen dieser Nach-weLs gelingt, kann natürlich von Paralyse als Dienstbeschädigungsfolge nicht mehr die Rede sein, und es kommt nur die Möglichkeit der Verschlimmerung in Betracht, auf die ich hier nicht näher eingehen will. So kommt es bei der Dienstbeschädigungsfrage der Paralysen hauptsächlich auf zwei Punkte an: die Art der als Dienstbeschädigung angesprochenen Erlebnisse auf der einen, Symptome, Verlauf und pathologisch-anatomische Veränderungen auf der anderen Seite. In der Versicherungspraxis ist, wie oben erwähnt, ziemlich allgemein anerkannt, daß Kopfverletzungen unter gleichzeitiger Mitbeteiligung des Gehirns (Cominotio, Quetschungen, Verletzungen des Gehirns) eine ausreichende Schädigung für die Hervorrufung einer Paralyse darstellen. Das wird man auch für die Feldzugsparalysen aufrecht erhalten. Außerdem aber kommen hier in Betracht die dem Feldzug eigenen Schädigungen, die nicht Ereignisse einmaliger Art sind, sondern länger dauernde Einwirkungen darstellen : lang anhaltende psychische Spannung affcktiver oder intellektueller Art, länger dauernde körperliche Strapazen, wie Märsche, Einwirkung von starker Hitze oder Kälte usw. Wo eine längere oder öftere Einwirkung solcher Schädlichkeiten sicher nachgewiesen ist, wird man sie für ausreichend betrachten müssen, um auf dein Boden der luetischen Infektion eine Paralyse auszulösen. Nach diesen Gesichtspunkten habe ich ciii Obergutachteii erstattet in folgendem sicheren Falle von Paralyse, bei dem vom Vorgutachter Dienstbeschädigung nicht anerkannt war: Seh. ist 37 Jahi'e alt. Nach der Kra.iikeiige. chielite hat er zuletzt, a. h. vor der Einziehung zum Heeresdienl, drei Jahre in einer Stelle gearbeitet und die Woche etwa 30 M verdient.. Er muß also vor dem Eintritt zum Hecresdienst noch völlig geuiid und leistungsfähig ge-%eSefl sein. Sel;. hat. aktiv gedient., ist am 25. August 1914 eingezogen worden, kam schon vier Wochen später ins Feld. Als aktiv gedienter Soldat. in, kräftigsten Mannealtcr ist er sicher nicht. be:onders geschont worden. Nach den Akten hat er neun Gefechte von längerer Dauer mitgemacht. 1m ganzen war er Vofl September 1914 bi Ende Dezember 1915 im Felde. Nach der Krankengeschichte "ist früher nichts bei ihm aufgefallen". E; ist immer gut gegangen. Er war zuletzt zu einer Kommandantur k)mnaandiert, wo man doch wahrscheinlich zuverlässige Leute braucht.. Auch dort ist "bi vorgestern nichts Beondere3 vorgekommen". Erst seit einigen Wochen bemerkten seine Kameraden ein sonderbare, mißt.rauiselie, verschlossenes \Vesen an ihm". Am 24. Dezember 1915 f ing er ohne klaren Grund einen Streit an. Von die em Tage ab datiert seine geistige Erkrankung, die schon am folgenden 'rage, 25. Dezember 1915, seine Lazareltaufnahme nötig machte. Aus diesen Notizen geht. hervor, daß vom August 1914 bis 1)ezember 1915 von der Erkrankung des Sch. niemand etwa; gemerkt. hat, daß er seinen Dienst sowohl an der Front wie in einer ruhigeren Stellung, ohne auffällig zu werden, zur Zufriedenheit verrichtet hat und daß dann die geistige Erkrankung ziemlich plötzlich einet.zte. Es geht ferneT daraus hervor, daß er länger dauernden und erheblichen körperlichen Strapazen und auch den stärkeren Aufregungen, welche die Teilnahme an neun Gefechten mit. sich brachte, ausgesetzt war. Dies sind aber besondere Schädigungen, welche sehr wohl geeignet. rind, auf dem Boden der vorher erworbenen Syphi1i eine progressive Paralyse zum Ausbruch zu b:ingen oder wenigstens ihren Ausbruch zu beschleunigen, Heruntergeladen von: NYU. Urheberrechtlich geschützt.
doi:10.1055/s-0028-1144631
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