Editorial

Martina Heichinger
2019
Der Jahrgang 2019 der Zeitschrift für freie psychoanalytische Forschung und Individualpsychologie ist Alfred Adlers programmatischem Hauptwerk "Über den nervösen Charakter" aus der Perspektive der Lebenswelt des Menschen im 21. Jahrhundert gewidmet. Während die Ausgabe 1/2019 "neue" Quellen der Minderwertigkeit und deren Kompensation aufzuzeigen trachtete, soll es in der aktuellen Ausgabe um aktuelle und brisante gesellschaftliche Themen im Lichte des zentralen individualpsychologischen
more » ... der Fiktion als leitender Idee des Individuums gehen. Adler entlehnt den Begriff der Fiktion dem Werk "Die Philosophie des Als Ob" des Neukantianers Hans Vaihinger, der als Vorläufer des Konstruktivismus gesehen werden kann (Vaihinger 1911). Jener versteht unter Fiktion eine bewusst gewählte Vorstellung von der Welt, die von der Wirklichkeit abweicht, aber die Orientierung erleichtert, da diese fiktive Grundannahme eine Handlungsfähigkeit ermöglicht. Adlers schöpferische Leistung ist, diese Theorie auf die Psychologie und die Konfliktdynamik des Unbewussten, zwischen Minderwertigkeitsgefühlen und Kompensation, zu übertragen. Aus den defizitären Voraussetzungen, die aus individualpsychologischer Sicht am Anfang jedes menschlichen Lebens stehen, erwächst ein großes Potential für das Individuum. Die Fiktion ist Ausdruck der schöpferischen Kraft des Individuums, und sie dient der Stabilisierung des Ichs, um sich tatsächliche oder phantasierte, das Ich kränkende Schwächen, nicht eingestehen zu müssen. Adler sieht das Individuum als eine durch seine fiktive Persönlichkeitsidee zielgerichtete Einheit, dessen planvolle Dynamik im Bereich des Unbewussten liegt und doch mit jedem
doi:10.15136/2019.6.2.i-iii fatcat:tf4lglpeyfaqnb3fvt2zcloypm