Mit Pierre Bourdieu Ethik treiben? : Sozialethik angesichts der praxeologischen "Soziologie der sozialen Determinanten" [article]

Matthias Möhring-Hesse, Universitaet Tuebingen
2020
und eine Moral zu konstruieren, die bescheiden, praktisch und an den -meiner Meinung nach nicht sehr weiten -Grenzen der menschlichen Freiheit bemessen ist." (Pierre Bourdieu) 2 Zumindest wenn man Sozialethik einigermaßen nahe an den politi schen Auseinandersetzungen betreibt, ist man als Sozialethiker mit sozialen Ungleichheiten beschäftigt. Wenn man zugleich den An schluss an sozialwissenschaftliche Debatten hält, hat man es unver meidbar mit dem französischen Soziologen Pierre Bourdieu zu
more » ... . In einer für die zeitgenössische Soziologie originellen Weise hatte dieser -nicht zuletzt in seiner Studie über "Die feinen Unter schiede"3 -die Dynamik und gleichzeitig die Hartnäckigkeit von so zialen Ungleichheiten erheben und erklären können. In diesem Bei trag wird es allerdings nicht darum gehen, mit Pierre Bourdieu Sozialethik über soziale Ungleichheiten zu betreiben. Es geht statt dessen darum, in der Sozialethik wie Pierre Bourdieu zu denkenoder genauer: Es soll geklärt werden, ob es für eine (theologische) Sozialethik lohnenswert ist, sich theoretisch und methodisch an der von Pierre Bourdieu für die Soziologie vorgeschlagenen praxeologi schen Theorie der Gesellschaft zu schulen; es soll dabei insbesondere geklärt werden, ob und wie Sozialethik in den engen Grenzen seiner 1 Pierre Bourdieu, in: Ders./Wacquant, Anthropologie, 249 (Es handelt sich bei dem Text, dem der Ausdruck entnommen ist, um ein Interview bzw. ein Ge spräch, das Lore J. D. Wacquant mit Pierre Bourdieu anlässlich eines Seminars in Chicago 1987 geführt hat und das in die gemeinsame Publikation Bourdieu/ Wacquant, Anthropologie, eingegangen ist.) 2 Ebd., 235. 3 Ders., Unterschiede. 214 Matthias Möhring-Hesse soziologischen "Unterwerfung unter die ehernen Gesetze der Gesell schaft"4 betrieben werden kann und ob und wie diese Grenzen in Richtung auf ein "Mehr" an Gerechtigkeit ausgeweitet werden kön nen. Wie bescheiden muss und wie bescheiden kann sich die Sozial ethik "machen", wenn sie sich von der Soziologie Pierre Bourdieus über das hohe Maß an Notwendigkeiten informiert, die sich in der immer nur scheinbar kontingenten Praxis von Menschen und Grup pen immer wieder ein-und herstellen? Dass in der theologischen Sozialethik auf Bourdieus praxeologi sche Soziologie zurückgegriffen wird, soll zunächst einmal damit gerechtfertigt werden, dass mit dieser die "Dualität von Strukturen" angemessener als mit den "Bordmitteln" der katholischen Sozial ethik angegangen werden kann (1.). Auch wenn sie "eigentlich" zwi schen den beiden Extremen eines praktischen Voluntarismus und eines fatalistischen Determinismus gehalten werden sollte, führte Pierre Bourdieu seine "praxeologische Theorie" extrem nah an das zweite Extrem (2.). Wie in dieser Nähe Sozialethik betrieben werden kann (3.) und warum die von Bourdieu gezogenen Grenzen des Notwendigen doch geweitet werden sollten (4.), soll abschließend bedacht werden. Strukturen als Vollzugsform von sozialer Praxis Aus zwei "Grunderfahrungen" heraus sprechen wir die Welt, die wir gemeinsam mit anderen bevölkern, als Gesellschaft an, auch wenn so etwas wie Gesellschaft kein möglicher Gegenstand unserer Erfah rung ist. Da ist zunächst einmal das " Widerfahrnis", dass wir in un seren sozialen Beziehungen mit anderen und in unserem sozialen Handeln gegenüber und mit anderen immer schon bestimmt und dadurch in unseren Beziehungen und unserem Handeln strukturiert werden. Dies erfahren wir negativ und häufig als Ärgernis,5 wenn wir denn in unseren Möglichkeiten restringiert und in unseren Freihei ten eingeschränkt werden. Wir erfahren dies auch positiv, so uns die widerfahrenen Strukturierungen unserer Beziehungen und unseres Handelns immer auch Ressourcen dafür sind, Beziehungen mit an-' Ders./Wacquant, Anthropologie, 232. 5 Vgl. Dahrendorf, Utopia, 90.
doi:10.15496/publikation-49087 fatcat:gxpzkgsz6vd7za3otabcgcgrf4