Kunst und Krise: Kirchner beim Malen von Kirchner
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Bernhard [Hrsg.] Mendes Bürgi
2018
Es liegt in der Natur der Sache, dass wir durch die Selbstporträts eines Künstlers ihm selbst begegnen. Wenn Künstler wie Rembrandt oder Vincent van Gogh sich über die Jahre hinweg in unterschiedlicher Stimmung, in verschiedenen Rollen, ja sogar in wechselnden Verkleidungen dargestellt haben, so sind die Selbstpor träts überdies Zeugnisse ihres Lebenslaufs, in dem Glück und Unglück, Erfolg und Misserfolg, Ruhm und Einsamkeit, Triumph und Niederlage aufeinander folgen. Doch sind Selbstporträts
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... cht nur biografische Dokumente, sondern auch Kunstwerke, überzeugend durch die Formfindung und die Gestalt. Sie zeu gen nicht nur vom Leben des Künstlers, sondern auch von seiner Arbeit. Auch dies liegt in der Natur der Sache.1 I. SCHULD UND SÜHNE Ernst Ludwig Kirchner hat sich nicht selten, aber auch nicht besonders oft gemalt. Seine Selbstbildnisse zeugen von einer persönlichen Krise von 1915 bis 1918; sie gehen dieser voraus, begleiten sie und folgen ihr, belegen schliesslich auch die neue Selbstfindung. Autoren wie Eberhard W. Kornfeld, Roland Scotti, Peter Springer und Joachim Kaak, die diese Werke einzeln oder in der Gesamt heit studiert haben, sind natürlich auf die Biografie des Künstlers eingegangendoch nur, indem sie von vornherein eine nur biografische Lesart ausgeschlossen haben, um den Sinn des Bildnisses schliesslich im Formereignis der Kirchner'schen »Hieroglyphe« zu suchen.2 Der biografische Hintergrund ist ebenso unvermeidlich wie ungenügend. Das Problem stellt sich nicht nur im Allgemei nen: Es geht nicht nur um die Zirkelschlüsse des Biografismus, bei dem das Leben des Künstlers durch das Werk und dieses durch das Leben erklärt wird, es geht auch nicht allein um die Gegenüberstellung von biografischem Gehalt und künstlerischer Form. Die Sache verkompliziert sich im Falle Kirchner durch die Bedeutungsebenen, die sein Lebenslauf aufgrund seiner Verstrickungen mit dem Kriegsereignis annimmt. Die persönliche Krise des Künstlers verläuft genau parallel dem Ers ten Weltkrieg, den nicht nur die Dadaisten als tiefste Infragestellung der abend ländischen Kultur und Wertewelt begriffen haben. Hinter Kirchners Selbst aufgabe, seiner Krankheit, die ihn 1917 dem Tode nahe brachte, steht der Krieg vor allem seine Angst, selbst zum Dienst als Frontsoldat eingezogen zu werden. Die Parallele der persönlichen und der welthistorischen Krise führen vor das Problem, ob Kirchner in seinen Selbstporträts nur sich selbst infrage stellteoder damit und darüber hinaus auch die kulturelle Identität der Gemeinschaft, deren Teil er war. Überträgt man diese Fragen von der biografischen Ebene auf die der Kunst, so fällt ins Auge, dass Kirchner von 1915, seit dem Selbstporträt als Soldat (Abb. 12) mit abgehackter Hand, bis 1919 die eigene Schöpferkraft beziehungweise deren 59
doi:10.11588/artdok.00006123
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