Wirtschaftliche Kriegsziele Englands und interalliierte Kooperation
Heide-Irene Schmidt
1981
Militärgeschichtliche Zeitschrift
Die doppelte wirtschaftliche und politische Herausforderung Großbritanniens als »Empire« und »First Industrial Nation« durch die immer stärker auf den Weltmarkt drängende deutsche Wirtschaft und durch den gegen die englische Vormacht gerichteten imperialen Anspruch der Flottenbaupolitik des Deutschen Reiches sorgte bereits in der Dekade vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges für eine anhaltende Diskussion über einen Kurswechsel in der englischen Außen-und Wirtschaftspolitik. Während es
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... en gelang, seine strategischen Interessen an der Erhaltung der »Balance of Power« mit Mitteln der Bündnispolitik und durch den Einsatz seiner Finanzkraft in der Flottenrüstung (Two-Power-Standard) zu sichern, blieb die Diskussion über eine Modifizierung der traditionellen Wirtschaftspolitik im Grabenkrieg zwischen Freihandels-und Schutzzollanhängern stecken. Auf diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob und in welchem Ausmaß die Kriegssituation zur Aufweichung verfestigter Wirtschaftsdogmen und zur Lösung wirtschaftspolitischer Kontroversen beigetragen hat. Inwieweit wurden wirtschaftliche Kriegsziele auch als Instrument wirtschaftspolitischer Neuorientierung eingesetzt? Die Analyse der wirtschaftlichen Kriegsziele Englands auf die innerenglische Diskussion zu beschränken, würde jedoch bedeuten, die interalliierte Komponente der Kriegszieldiskussion zu verkennen, die den englischen Entscheidungsspielraum erheblich einengte. Schuf die weitgehend auf interalliierte Präferenzsysteme abzielende wirtschaftliche Kriegszieldiskussion der Alliierten für die englische Regierung unerbetenen innenpolitischen Zündstoff, so wurde andererseits die innerenglische, um »Schutz der nationalen Arbeit« und »imperial preference« kreisende Diskussion über eine wirtschaftspolitische Neuorientierung von Seiten der Alliierten mit Argwohn verfolgt und führte zu dem belgisch-französischen Versuch, von England wirtschaftspolitische Zugeständnisse für die Nachkriegszeit zu erhalten 2 . Dieser Umstand war einer der Gründe, warum die englische Regierung grundlegende wirtschaftspolitische Entscheidungen im Sinne einer »economic reconstruction« während des Krieges vermied. In den letzten Jahren haben die Forschungen von McDougall, Artaud u. a. die in der Zeit der Friedenskonferenzen 1919-22 (Versailles -Lausanne) kontrovers diskutierte These wiederbelebt, derzufolge eine größere Kooperationsbereitschaft der »angelsächsischen« Wirtschaftsmächte, ein stärkeres Engagement für »european reconstruction«, der französischen Reparationspolitik die Härte hätte nehmen können 3 . Diese These ist insofern einleuchtend, als die französische Regierung seit Ende 1915 versuchte, das wirtschaftliche Potential Englands für den französischen Wiederaufbau zu beanspruchen, eine Zielsetzung, die sich im Ergebnis der Pariser Wirtschaftskonferenz von 1916 niederschlug. Die Bemühungen Frankreichs, auch die USA für eine interalliierte Kooperation für den Wiederaufbau zu gewinnen, scheiterte am amerikanischen Mißtrauen gegenüber den wirtschaftlichen Kriegszielen der europäischen Verbündeten; ohne die Mitwirkung der USA war England jedoch nicht mehr bereit, finanzielle und wirtschaftliche Resourcen über die Dauer des Krieges hinaus für seine europäischen Verbündeten bereitzustellen. Der rapide Abbau der Auslandsguthaben, der Wechsel von der Gläubiger-in die Schuldnerposition gegenüber den USA, ver-37 MGM 1/81 stärkten in England die Tendenz, eine allein an englischen Interessen und an der für
doi:10.1524/mgzs.1981.29.1.37
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