Naturalisierung der Freiheit aus Sicht der Verhaltensforschung [chapter]

MARTIN HEISENBERG
Naturgeschichte der Freiheit  
Naturalisierung der Freiheit aus Sicht der Verhaltensforschung 149 MARTIN HEISENBERG Naturalisierung der Freiheit aus Sicht der Verhaltensforschung 1 Naturgesetz und Zufall Im 19. Jahrhundert, als die Wirklichkeit noch als vollständig determiniert angesehen werden und man sich vorstellen konnte, dass es für alles lückenlose Ursachen gäbe, jede Veränderung also vom Beginn bis zum Ende des Universums im Prinzip zu jeder Zeit feststünde, war es naheliegend, ja vielleicht sogar denknotwendig, die
more » ... eiheit im Protest gegen diese Doktrin oder als "Alleinstellungsmerkmal" des Menschen mit der Verletzung der Naturgesetze in Verbindung zu bringen. Da aber, wie uns die Physik des 20. Jahrhunderts lehrt, die Fäden von Ursachen und Wirkungen wegen der Quantenunbestimmtheit nicht von Anfang bis Ende durchgehen, sondern anfangen und abreißen, muss man heute die Verletzung der Physik als Bedingung für Freiheit nicht mehr fordern. Was immer wir unter Willensfreiheit verstehen, die Zukunft ist offen. Es kann objektiv einen Unterschied für den Lauf der Welt machen, ob wir uns Mühe geben oder nicht. Mir ist bewusst, dass der Widerstand gegen die Ursachenlosigkeit unter den Philosophen immer noch groß ist. Aber die Annahme, man könne das Plancksche Wirkungsquantum unterlaufen, das heißt es gäbe unterhalb der Elementarteilchen noch eine weitere Ebene der Analyse, auf der man eines Tages zum Beispiel die konkrete hinreichende Ursache für das einzelne Ereignis im β-Zerfall werde finden können, ist in der Physik intensiv diskutiert worden. Man denke nur an Einsteins berühmtes "Gott würfelt nicht!". Heute sind die meisten Physiker der Meinung, die Annahme einer solchen weiteren Ebene sei mit der Physik unvereinbar, und die Suche danach wurde eingestellt. Ich finde die Ursachenlosigkeit nicht so skandalös, wenn ich mir klar mache, dass die Physik eine Abstraktion ist, und mir die schier unendliche Kreativität dieses Daseins vergegenwärtige. Das verbissene Festhalten an der Vor-1
doi:10.1515/9783110872026.43 fatcat:6ee3qwaaurc5vj63bmicjt6iwm