Von der Minderheitenbühne zur "europäischen Sendung des deutschen Theaters"

Anselm Heinrich
2020 Linguistica  
Das Theater spielte eine herausragende Rolle in der nationalsozialistischen Kulturpolitik. Besondere Aufmerksamkeit wurde dabei den zahlreichen deutschsprachigen Liebhaber- und Minderheitentheatern in Ostmitteleuropa zuteil, die nach den politischen Veränderungen 1918/19 nunmehr außerhalb der Reichsgrenzen arbeiteten. Viele von ihnen wurden aus Berlin unterstützt, manche nach 1933 sogar direkt subventioniert. Diese Kulturschaffenden, so die offizielle Lesart, waren Beleg dafür, dass weite Teile
more » ... Ost-, Mittel- und Südeuropas trotz der Veränderungen nach dem Ersten Weltkrieg deutsch geblieben waren, obwohl das die derzeitigen politischen Grenzen nicht widerspiegelten. Das Ziel, diese Autoren und die Gebiete, in denen sie arbeiteten, wieder Deutschland einzugliedern, wurde beispielsweise in den Publikationen Heinz Kindermanns deutlich formuliert. Das steigende Interesse an Literatur, Musik und Theater der deutschen Minderheiten muss daher als Vorgriff auf die militärischen Expansionsbestrebungen des Zweiten Weltkriegs gesehen werden. Umso verwunderlicher mag es daher erscheinen, dass dieses offizielle Interesse nach der eigentlichen Besetzung weiter Teile Ost-, Mittel- und Südeuropas kaum mehr eine Rolle spielte und die deutschen Minderheitentheater anstatt ausgebaut und gefördert, weitgehend verdrängt und durch Berufsensembles ersetzt wurden. Der vorliegende Artikel zeichnet einige der Grundlinien dieser Entwicklung nach, eine Entwicklung, die in der einschlägigen Literatur bisher kaum Beachtung gefunden hat.
doi:10.4312/linguistica.60.2.299-312 fatcat:wurkj24khffznhi4ev67h4a7rq