Neuere Deutungen von mitteleuropäischen Oberflächenformen

E. K. Gerber
1949 Geographica Helvetica  
Von jeher haben die Oberflächenformen der Erde, die uns umgeben, zu Deutungsversuchen ange¬ regt. So wurden früher die Alpen als das Werk ungeheurer personifizierter Schöpfer-und Zerstörungs¬ kräfte aufgefaßt. Der moderne Mensch kann sich damit nur dann noch befreunden, wenn es sich um Dichtung handelt, etwa in der Form einer Stelle im «Olympischen Frühling » von Carl Spitteler, die P. Niggli das «Hohe Lied des Petrologen und Geologen» genannt hat1. Aber auch der moderne Mensch versucht zu
more » ... n, indem er die Formen als Ausdruck natürlich ablaufender, rational erfaßbarerVorgänge betrachtet. Wir müssen allerdings bekennen, daß einzelne dieser Deutungen, vor allem die ersten Ver¬ suche und ganz besonders die allzu vereinfachten populären Ansichten, ebenso phantastisch sind wie die vorrationalistischen, ohne deren künstlerischen Wert zu besitzen, ja, daß bis jetzt überhaupt kein einziger Deutungsversuch von Großformen, auch der ernsthafteste und beste, in jeder Beziehung einem streng wissenschaftlichen Maßstab standhalten kann, und daß alle Anstrengungen in dieser Richtung nur sehr gewagte Extrapolationen sind. Und trotzdem haben sie ihre Berechtigung, weil dadurch und gerade dort, wo die Deutungen versagen, der Grundlagenforschung neue Impulse und neue Fingerzeige für die Forschungsrichtung gegeben werden. Diese Basis, von der aus neue Deutungen versucht werden können, zu erweitern, muß immer wieder eine dringliche Aufgabe sein. Sie kann auf zwei Arten erwei¬ tert werden, erstens durch immer genaueres Erfassen heute beobachtbarer Vorgänge, dann durch Ver¬ feinerung der Theorie dieser Vorgänge. Im Vordergrund der Formdeutung der Alpen standen und stehen noch immer die fluviatilen und glazialen Vorgänge. Das wird schlagwortartig zusammengefaßt durch den Titel: Flußund Eiswerk in den Alpen2. Fluviatile Erosion ist die mehr linear, glaziale Erosion
doi:10.5194/gh-4-178-1949 fatcat:jmdphabsw5enbnmqq46nm6sbwe