Literatur und Notizen
1895
Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung
Literatur. G. Strakosch-Grassmann, Geschichte der Deutschen in Oesterreich-Ungarn. Erster Band (von den ältesten Zeiten bis zum Jahre 955). Mit einem Sachregister. Wien 1895. Verlag von C. Konegen. Von diesem Werke wird in einem Prospectus, den die Verlagshandlung ausgibt, gerühmt, dass »die Darstellung ausschliesslich auf Grundlage der Quellen und der einschlägigen Specialforschungen aufgebaut und von den neueren Bearbeitungen der österreichischen Geschichte völlig unabhängig sei.« Dasselbe
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... sichert der Verf. in der Vorrede mit der Motivierung, dass die vorhandenen Darstellungen der österreichischen Geschichte insgesammt mehr oder weniger zum Zwecke des academischen Unterrichts geschrieben seien. Es sei aber »von ausserordentlicher Wichtigkeit nicht blos in gelehrter Hinsicht·, dem deutschen Volke in Oesterreich-Ungarn seinen gesammten geschichtlichen Lebensgang in ausführlicher Weise darzustellen und zu schildern, wie sich die nationalen, politischen und culturellen Verhältnisse, die heute sein Dasein bestimmen, entwickelt haben. * Sieht man näher zu, so unterscheidet sich der ganze Aufbau des Werkes wenig von dem der österreichischen Geschichte bei M. Büdinger oder A. Huber. In der Conception tritt insofern eine Unklarheit zu Tage, als der Verf. eine Geschichte der Deutschen in Oesterreich zu schreiben unternimmt, in diesem Bande aber zum grösseren Theile von den Germanen daselbst gehandelt ist. Man hätte daher erwartet, dass der Verf. über die Begriffe »Germanen 4 und »Deutsche 4 sich des Näheren ausliesse. Wie stehen denn die Marcomanen, die Vandalen, die Gothen, Gepiden, Langobarden zum heutigen Deutschthum in unserer Monarchie? Wobei allerdings eine gewissenhafte Rücksichtnahme auf Fickers »Erbenfolge der ostgermanischen Rechte namentlich die im Frühjahr 1893 ausgegebene erste Hälfte des zweiten Bandes von Nöthen gewesen wäre; so besonders bei der Behandlung der Langobarden, dann der alpinen Verhältnisse in den ehemals rätischen, sowie den südlich anstossenden Gebieten, ζ. B. Fleims, für das der Verf. die Studie von Sartori (Ferdinandeumszeitschrift 1892) Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 1/9/15 7:42 PM in einem Nachtrag anführt (S. 365). S. 267 f. werden die Langobarden als »ein zu den Sueben gerechneter Volksstamm« bezeichnet; wobei sich Jeder denken kann, was er will; die Bajuvaren aber, als die ehemaligen Marcomanen, sind auch Sueben (S. 12); worin liegt also die specifische Differenz zwischen Langobarden und Baiuvaren? Yon der Gestaltung des Eechtes der beiden Stämme und den daraus zu ziehenden Schlüssen lässt Verf. keine Kenntnis merken; obwohl er einmal den Aufsatz Pickers im zweiten Ergänzungsbande der »Mittheilungen« citirt, ist ihm die Bedeutung der dort entwickelten Grundsätze, sowie der darauf aufgebauten »Erbenfolge« völlig entgangen. Ist dies schon ein Cardinalfehler des Buches, so nicht weniger der etwas unklare Standpunkt des Verfassers dem »Deutschthum« gegenüber. Nach S. 453 wird in Vorarlberg das Ohr eines Deutschösterreichers oder eines Norddeutschen durch den süsslichen Klang der Sprache nicht gerade angenehm berührt; S. 450 wird sehr proleptisch vom »frommen Lande« Tirol gesprochen; S. 472 wird das »gemüthliche faule Stillleben der Salzburger Gelehrten« (saec. IX) gerügt. Von dem Deutschthum in der Diaspora hält Verf. nicht viel. So äussert er S. 247 über die (angeblichen) Gothenüberreste am Brenner (er meint »Gossensass«, das man aber auch schon seit bald 20 Jahren anders deutet): »irgend eine geschichtliche Bedeutung haben diese Trümmer, falls sie thatsächlich bestanden, ebensowenig, als etwa heute das deutsche Dorf Timau in Venetien« ... S. 453 über die Anknüpfungen der alemannischen Klöster in Oberitalien: »Doch haben die guten Schwaben an ihrem italienischen Besitz ebensowenig Freude erlebt, als die heutigen Deutschen an ihren italienischen Werthpapieren.« Während Baiuvaren und Alemannen, wie man sieht, mehr von oben herab behandelt werden, steht der Verf. der »grossen slavischen kirchlichen Bewegung«, welche die Salzburger aus ihrem gemüthlichen faulen Stillleben emporrüttelte (S. 472), der slavischen Ansiedlung in Istrien, die »zum Verdruss« der »italienischen Grossgrundbesitzer« erfolgte (S. 421), dem »schönen Lande« Böhmen »mit seiner manchmal wild aufschäumenden Bevölkerung« (S. 523) fast sympathischer gegenüber. Noch besser ergeht es den Avaren: «das Volk hat meines Erachtens eine viel zu ungünstige Beurtheilung erfahren« (S. 417). Die ältesten Zeugnisse über die Anwesenheit von Juden in den deutschösterreichischen Ländern werden wiederholt registriert (S. 432 und 467), hingegen die »antisemitische« Bewegung durch das ganze Buch hin bekämpft (man vgl. z. B. S. 90), sogar »die Märchen vom jüdischen Ritualmord in modernen Winkelblättchen« an den Haaren herbeigezogen (S. 252); so dass nur zu verwundern, wenn die Stelle bei Ammian XXII, 5, 5 nicht zu einer Polemik gegen Kaiser Marc Aurel benützt wird. Dafür ist S. 398 bei Vorführung der irischen Glaubensboten Graf TaafFe erwähnt, S. 116 von einer ,römischen Nationalitätenpolitik' die Bede u. s. w. Der Verf. steht auch sonst durchaus auf dem Standpunkt bekannter »demokratischer« Journale; so wenn er sich S. 96 über eine Massnahme Kaiser Constantins, die Aufnahme von Vandalen auf römischen Boden lustig macht, »die sich zwar in einer kaiserlichen Kanzlei als eine recht pfiffige Idee ausnehmen mochte, in Wirklichkeit aber sehr schlimme Folgen gehabt hat« ; oder wenn er anf der letzten Seite dieses Bandes über den Sieg Ottos bei Augsburg spottet »als Mittheilungen XVI. 23
doi:10.7767/miog.1895.16.2.352
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