Von Jakob zu Israel

Leonhard Ragaz
1938
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Ich hatte nichts als diefen Stab, da ich über den Jordan ging, und nun bin ich zu zwei Heeren geworden. Ich laffe dich nicht, du fegneft mich denn! i. Mofis 32. Wenn im Alten Teftamente auch nur die Gefchichte vom Kampf Jakobs mit Gott ftünde, fo wäre es fchon ein außerordentliches Buch. Der Kampf mit Gottwelch ein Gedanke! Alfo nicht bloß fklavifches Vergehen vor Gott, fondern Kampf mit ihm, fogar Sieg! Wenn wir bedenken, was diefe Gefchichte bedeutet: wie wäre es, wenn fie nicht in der Bibel ftünde! Wie manche Seele wäre dann nicht gerettet worden, wie manche Ichwere Nacht troftlos geblieben! Aber mit diefer Gefchichte, mit diefem "Ich laffe dich nicht, du fegneft mich denn", wie könnte da eine Seele noch verzweifeln? Wie könnte noch eine Nacht ganz fintier bleiben? Der Erzvater Jakob kehrt aus der Fremde zurück, wohin Schuld und Schickfal ihn getrieben. Er fteht an der Grenze des Landes der Väter, des gelobten Landes. Wie follte da nicht die Erinnerung über ihn kommen? Er hat all feine Begleitung vorausgefchickt und fteht, wie der Abend kommt und die Nacht hereinbricht, einfam am Stromesufer. Das Raufchen der Wellen bringt die alten Tage zurück, die Tage der Kindheit und Jugend, die Tage der Wanderung -Alles, Alles! Als junger Menfch ill er, vor vielen Jahren, ungefähr in diefer Gegend, über den Jordan gegangen, flüchtend, nur einen Stab in der Hand, und nun, welch ein Reichtum! Wie hat fein Leben fich entfaltet, fich ausgebreitet! Zum erften Male wohl, bei dieier Rückfchau und Umfchau, wird er fich deffen fo recht bewußt. Er fteht befchämt. Hat er das denn eigentlich verdient? Er meinte vorher wohl etwa, fein Leben fei hart gewefen und dürftig, allzuhart, allzudürftig, und hatte vielleicht gar mit Gott darüber gehadert. Und nun, wie viel ill geworden, überrafchend viel, unglaublich viel! Seine Seele bricht in Lob und Dank aus: "Ich bin zu gering, Herr, all der Barmherzigkeit und Treue, die du deinem Knechte erwiefen haft. Ich hatte nichts als diefen Stab, da ich über den Jordan ging und nun bin ich zwei Heere geworden." Wenn das Leben eines Menfchen einigermaßen treu verlaufen iftfreilich auch dann von Gottes Treue getragen -dann mag es ihm wohl für gewöhnlich fdieinen, es fei bei all feinem Planen und Schaffen, 297 Kämpfen und Leiden nicht gar viel herausgekommen. Wie vieles, das geplant war, ift zunichte geworden! Wie viel ausgeftreute Saat ill verwelkt oder vom Wetter zerfchlagen worden! Und doch, wenn fein Leben den Weg Gottes nicht ganz verlaffen hat, bei allem Irren und Fehlen, wird er eines Tages gewahren, daß auf feinem Felde mehr Ernte fteht, als er einft geträumt hatte, andere vielleicht, als er geträumt hatte, aber reichere, koftbarere. Auch er ill mit einem Stab über den Jordan gegangen, ohne Gepäck, mit Nichts, in die fremde Zukunft hinein, und nun: wie hat fein Leben fich entfaltet, wie ift er zu zwei "Heeren" geworden, einem "Heer" des Eigenften, einem "Heer" des Zugehörigen! Und er wird empfinden, daß er das nidit verdient hat. "Ich bin zu gering all der Barmherzigkeit und Treue, die du deinem Knechte erwiefen haft." Gott läßt fich befiegen durch die Schwachheit des Menfchen. Aber nun bleibt es nicht bei diefem Erften. Das ill die Vergangenheit und Gegenwart, aber die Zukunft? Auf Jakob ruht ja noch eine größere Verheißung, als daß er zu "zwei Heeren" werde: die Verheißung, die dem Abraham gegeben wurde. Er ill Träger der Berufung des Volkes Gottes. Er hat die Erftgeburt. Freilicher hat fie dem Bruder geraubt! -Dunkler wird die Nacht, fchwerer. Es finkt eine Laft auf ihn. Arme legen fich, fo ift es ihm, um feine Bruft. Er will erfticken. Was ift es, das ihn fo furchtbar anfaßt und ihn erwürgen will, diefe dunkle, diefe übermächtige Gewalt? Er weiß es Selbft zuerft nicht recht, nur langfam wird es ihm klar: Es ill die Schuld, die alte Schuld, die Schuld am Vater, am Bruder, an andern, die Schuld gegen Gott, und es ift die neue Schuld, die feither hinzugekommen ift, die angehäufte Schuld des ganzen bisherigen Lebens, was ihn nun erdrücken will. Und wie follte er nicht verloren fein? Diefe Schuld ift ja bergehoch. Der ihn anfaßt, ill riefenftark, unendlich ftarkwie follte er ihm nicht erliegen? Aber er ringt -ringt mit der dunklen Macht. Und das rettet ihn. Denn in diefem Dunkel ift Gott, fein Gott. Er faßt ihn an in der Uebermacht leiner Empfindung der Schuld. Darin begegnet er Gottdarin findet er ihn. Nun erft kennt er Gott, nun erft fchaut er, im Kampfe hegend, fein Angefleht. Nun erft kennt er feinen Namen. Nun erft kann er wirklich Träger der Verheißung fein. Nun ift er nicht mehr der Jakob, mit all feinen Menfchlichkeiten, Ränken und Liften, fondern Ifrael, der Gotteskämpfer. Nun erft ift er zum reinen, ganzen Dienfte Gottes fähig. Er hat in feinem Kampf mit Gott auch mit den Menfchen gekämpft: mit dem, was ihm aus diefen an Menfchenmacht und Menfchenverderbnis entgegenkommen wird, ihn verfuchend, ihm feindlich er kann ihnen nun überlegen, fieghaft entgegentreten. Da er Gott kennt, fchrecken fie ihn nicht mehr und verfuchen ihn nicht mehr wie vorher. Gott fpricht zu ihm: "Du follft fürderhin nicht mehr Jakob heißen, fondern Ifrael (Gotteskämpfer). Denn du halt mit Gott und mit Menfchen gekämpft und haft gefiegt." Er aber antwortet: "Ich
doi:10.5169/seals-137212 fatcat:4cn7eiz3ynhl7ev7ocui3iehty