Rattengift und andere Nocebos

2014 PrimaryCare  
190 Diesen Te xt verdanke ich einem eigensinnigen Bauern und einem engagierten Professor. Das kam so: Als ich kürzlich bei einem Lauf mit dem iPod in den Ohren zehn Minuten oberhalb unseres Hauses eine Steigung hochkeuchte, hörte ich plötzlich durch die Ohrenstöpsel das Knattern eines Helis. Alle meine Kolleginnen und Kollegen im Baselbiet wissen, was das bedeuten kann. Es war wohl wieder einmal jemand vom Kirschbaum gefallen. Früher sackten die Sprossen der Holzleitern durch, heute kippen oder
more » ... rutschen die Aluleitern ab. Früher wurden die verletzten auf Holzdielen und Brückenwagen transportiert, später mit Schaufelbahren und Ambulanz. Heute richtet es der Heli der Rega. Aber an diesem Wintertag war kein Heli in der Luft! Nachdem ich mich laufend, in einer Art Eiertanz, um 360 Grad gedreht hatte, gewahrte ich hoch im kahlen Kirschbaum den «Rattengiftler» beim Baumschneiden mit einer kleinen ratternden Motorsäge. Welche Überraschung! Wir zwei Kontrahenten von Angesicht zu Angesicht. Wir hatten keinen guten Abgang voneinander. Dabei war ich damals so stolz auf die Diagnose einer Polymyalgia rheumatica und auf die typische schlagartige Verbesserung nach ein paar Ta bletten Cortison. Der Eklat dann bei der nächsten Kontrolle. Das, was ich ihm gegeben habe, sei reines Rattengift. Und ich -gekränkt in meiner Berufsehre -muss die Nerven verloren haben. So müsse er mir nicht kommen, so könne er gleich einen anderen «Dokter» suchen. Worauf der Patient wutentbrannt aus dem Sprechzimmer stampfte. Hatte er mich überhaupt verstanden? (Er war sehr schwerhörig.) Den Irisdiagnostiker konsultiert? (Dem traute er mehr zu.) Oder einfach den Beipackzettel gelesen? (Etwas, was einem ja wirklich das Fürchten lernen kann.) Der Behandlungsvertrag zwischen uns war schlagartig gekündigt; der Name blieb an ihm hängen. Ich laufe seitdem beim «Rattengiftler» vorbei und nicht mehr wie früher beim «Sunne bödeler». Er ist beileibe nicht der Einzige. Neben dem knorzigen Bäuerchen erwischt es Unzählige bei der Mitteilung der möglichen Nebenwirkungen durch den Arzt und noch mehr beim Lesen der Beipackzettel. Der Noceboeffekt ist gewaltig und von durchschlagender Wirkung. Da wird oft unnötigerweise gezittert, geschwankt, erbrochen, da schlafen die Leute am helllichten Ta g ein oder könnenumgekehrt -nächtelang nicht mehr schlafen, haben Gelenkschmerzen, Hautausschläge, Durchfälle, Herzrasen, Impotenz, Schweissausbrüche, Sehstörungen, verstopfte Nasen und Depressionen. Jetzt kurzer Zwischenhalt! Ich sage nicht, dass es keine Nebenwirkung gibt! Ich stelle viel mehr die Frage, wie häufig Symptome ausgelöst werden durch eine Überdosis Aufklärung? Wir Ärztinnen und Ärzte sind manchmal wahre Nocebos. Aber offenbar unterschätzen wir das Problem immer noch. Professor Hansen, Klinik für Anästhesiologie Universitätsklinikum Regensburg, rückte in einem Vortrag und in einem Workshop an der Jahrestagung 2013 der SMSH (Schweizerische Ärztegesellschaft für Medizinische Hypnose) in Balsthal das Thema ins rechte Licht. Dazu auch sein Artikel [1]. Ich weiss nicht, wie es Ihnen geht? Aber ich hätte nie geglaubt, dass es auch in randomisieten Studien so krass aussehen kann. Erstes Beispiel: Die verblindete Gabe von Finasterid führt zu einer signifikant höheren Rate von sexuellen Dysfunktionen (44%) in der Gruppe, die über diese mögliche Nebenwirkung informiert worden war, im Vergleich zur Gruppe, die diese Information nicht erhielt (15%). Zweites Beispiel: Patienten mit Literatur 1 Häuser W, Hansen E, Enck P. Nocebophänomene in der Medizin: Bedeutung im klinischen Alltag. Dtsch Arztbl Int. 2012;109 (26):459-65.
doi:10.4414/pc-f.2014.00653 fatcat:inarlo5rwjer7p3i43owrc22wa