"Gorgonzola": Zeitgenössisches Bewußtsein und ursprüngliches Denken in einem Nietzscheschen Witz

Claus-Artur Scheier, Universitätsbibliothek Braunschweig
1995
Mill, Les freres Goncourt; der letzte trifft Emile Zola: "Zola: oder ,die Freude zu stinken"'. Das scheint nicht eben witzig zu sein, eher grob. So mag der Leser, auch wenn er mit Nietzsches vertrackter Art, Witze zu machen, einigermaßen vertraut ist, sich ein wenig unbehaglich fühlen und eilen, zu substantiellerer Lektüre vorzustoßen. Die bekommt er zweifellos in den "Streifzügen", in deren letztem, dem 51. Aphorismus, Nietzsehe behauptet: "Der Aphorismus, die Sentenz, in denen ich als der
more » ... e unter Deutschen Meister bin, sind die Formen der ,Ewigkeit'; mein Ehrgeiz ist, in zehn Sätzen zu sagen, was jeder Andre in einem Buche sagt, -was jeder Andre in einem Buche nicht sagt ... " Danach lohnt es vermutlich, zu den Witzen am Anfang zurückzublättern. Konzentrieren wir uns hier auf den letzten, wiewohl alle zweideutig-anziehend genug sind, um zusammen so etwas wie eine Aesthetica in nuce auszumachen. Zola war ein Nietzschesches Großbeispiel für den "modemen Artisten", den Decadence-Künstler par excellence, und obendrein ein international erfolgreicher Schriftsteller. In seinem berühmten Brief an Strindberg vom 8. Dezember 1888 spricht Nietzsehe tatsächlich von der Hoffnung, sein "Ecce homo" werde sich, ins Französische übersetzt, besser verkaufen als die "Nana". Nun lebte Nietzsehe in Italien, und empfindlich wie er war, hatte er beständig auf seine Diät zu achten. Was Wunder, daß sein hellwacher Sinn für Wortspiele und Kalauer den Franzosen bei Gelegenheit mit jener berühmten italienischen Spezialität assoziierte, mit dem Gorgonzola. Da ist also der Witz, vielleicht immer noch kein guter. Aber der Witz ist doch nur die eine Seite der Sentenz, die exoterische sozusagen. Wollen wir ihrem Urheber glauben oder auch der eignen Lese-Erfahrung, dann muß jeder Satz, jede Sentenz Nietzsches entziffert' ja "dekodiert" werden, denn sie sind allesamt, und zwar in streng philosophischem Sinn, "änigmatisch". Zu dieser Entzifferung bedarf es freilich einer Kunst der In-* Vortrag vor der Plenarversammlung der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft I) Der Vortrag wurde zuerst im Collegium Phaenomenologicum "Nietzsche in Retrospect and Prospect" 1988 in Perugia gehalten; die ursprüngliche englische Fassung ist erschienen unter
doi:10.24355/dbbs.084-201311211142-0 fatcat:nbjfqe64yndzvm65krvyspt4yq