Bedeutung historischer Fassadenputze und denkmalpflegerische Konsequenzen. Zur Erhaltung der Materialität von Architekturoberfläche (mit Bibliographie und Liste von Konservierungsarbeiten)

Ivo Hammer, ICOMOS – Hefte Des Deutschen Nationalkomitees
2015
Das reiche kulturelle Erbe, das wir im Material, in den Formen und den Bedeutungen der Architekturoberflächen finden, droht zu verschwinden. Nach wie vor wird Architekturoberfläche als auswechselbares Gewand betrachtet. Verputzte Oberflächen von Fassaden zum Beispiel werden in den letzten Jahrzehnten nicht -wie in früheren Zeiten -nur mit traditionellen Materialien repariert, überputzt und getüncht, sondern radikal abgeschlagen und erneuert, oft unter beträchtlichem Aufwand oder mit nicht
more » ... iblen Materialien beschichtet. So gehen historische Verputze nicht nur durch natürliche Verwitterung, sondern auch durch Erneuerung, durch Renovierung verloren. Der folgende Beitrag nimmt zu Fragen der Bewertung Stellung und diskutiert vor dem Hintergrund einer Kritik der herrschenden Praxis der Renovierung methodische und technische Kriterien der Konservierung und Reparatur historischer Verputze. Die gezeigten Beispiele sind Ergebnis von mehr als dreißig Jahren restauratorischer Beschäftigung mit diesem Thema, vor allem im Rahmen der Restaurierungswerkstätten des Österreichischen Bundesdenkmalamts. Sie sind nicht denkbar ohne die fachliche Zusammenarbeit und Auseinandersetzung mit vielen Amtskollegen, freiberuflichen Restauratorinnen und Studierenden, aber auch mit vielen ausgezeichneten Handwerkern. 1 Angesichts der nach wie vor herrschenden Praxis des Umgangs mit historischer Architekturoberfläche, sowohl hinsichtlich der Bewertung als auch hinsichtlich der Konservierung und Reparatur, scheint mir der Aspekt der Materialität von besonderer Bedeutung. Kulturbegriff Die Charta von Venedig (1964) dokumentierte einen umfassenden Kulturbegriff, der sich vor allem in der Denkmalpflege entwickelt hatte und die Konzentration auf das als autonom verstandene Einzelkunstwerk 2 überwand: Zum kulturellen Erbe gehören nicht nur die großen Werke, die seit der Renaissance als Kunst bezeichnet werden, sondern auch die bescheideneren Werke, denen kulturelle Bedeutung zuerkannt wird. Der breite Kulturbegriff der Charta von Venedig hat auch hinsichtlich der historischen Substanz des Denkmals eine für unser Thema wichtige Konsequenz: Zum architektonischen kulturellen Erbe gehört nicht nur der gebaute Raum und sein Design, sondern auch seine Oberfläche, unabhängig davon, ob sie zur künstlerischen Gestaltung gezählt wird oder ob sie ohne spezifisches dekoratives Konzept handwerklich bearbeitet ist, wie zum Beispiel der Verputz oder die Tünche einer Fassade oder eines Innenraums. 3 Kulturgut wird zum Denkmal, wenn das öffentliche Interesse an seiner Erhaltung festgestellt ist. Die Oberfläche ist wesentlicher Bestandteil der historischen Substanz des Denkmals, sie gehört zu seinem kulturellen Wert. Die Beschäftigung mit handwerklich hergestellten Erzeugnissen der Bearbeitung und Gestaltung historischer Architekturoberfläche, wie Verputzen, ist im Rahmen der Berufsausbildung und -praxis der akademisch ausgebildeten Restauratorinnen noch nicht lange eine Selbstverständlichkeit. Roland Möller hat mit der Doppelbezeichnung der Studienrichtung, also .Wandmalerei und Architckturfarbigkeif. in Dresden seit 1982 und vor allem mit seiner Lehre und Praxis ein erstes wichtiges Signal gesetzt. 4 Architekturfarbigkeit -Architekturoberfläche Im Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte definieren Kobler und Koller 1975 den Begriff Architekturfarbigkeit als das "Ergebnis aller Bestrebungen, die architektonische Struktur eines Bauwerks mittels seiner farbigen Erscheinung zur Geltung zu bringen".' Der Begriff beschränkt sich also eher auf das dekorative Konzept, das Design der Architektur und ihrer Oberflächengestaltung. Demgegenüber soll der Begriff Architekturoberfläche die Verknüpfung der materiellen und ästhetischen Aspekte signalisieren. Die mit dem Denkmal verbundenen historischen, künstlerischen oder sonstigen kulturellen Werte sind in seiner Materie, seiner Substanz vergegenständlicht, jede inhaltliche, ideelle Wertvorstellung ist an eine materielle, technologisch definierbarc Grundlage gebunden. Materie ohne Oberfläche gibt es nicht. Die Oberfläche ist die ästhetische und materielle Vermittlungsebene zwischen der Architektur und der Umwelt, also auch den Betrachtern, den Rczipientcn. In Anlehnung an kybernetische Vorstellungen könnte man sagen: Surface is interface." Die Farbigkeit der Oberfläche entsteht auf einem materiellen Substrat, die Farbe hat immer auch einen Träger und eine Oberfläche. Der Begriff Architekturoberfläche bezieht sich in erster Linie auf Materialien, die physikalisch mit der Architektur verbunden sind und die Architektur beschichten, also vor allem mineralische Materialien und deren Oberfläche, wie Natursteine, Ziegel. Verputze, Stuckmarmor, stueco lustro. Anstriche mit Kalk, aber -vor allem in Innenräumen -auch organische Materialien, wie Leimfarben, Tempera und Öl. Fünf prägende Faktoren der stofflichen Erscheinung Die Architekturoberfläche ist ästhetisch und materiell im Wesentlichen durch fünf verschiedene Faktoren bestimmt: 1. Durch den physikalischen und chemischen Charakter der Materialien. Matcrialkombinationen. durch die Hcrstellungsund Verarbeitungstechnik, durch Arbeitsmittel und Arbeitsgeräte. Die von Läszlö Moholy-Nagy im Rahmen des Bauhauses entwickelte Terminologie" scheint in diesem Zusammenhang durchaus anregend: Die Struktur als die "unveränderbare aufbauart des materialgcfüges", also beim Kalk die Calcitkristalle, die Textur als die "organisch entstandene abschlussfläche jeder struktur nach außen (epidermis, organisch)", beim Kalk also die Sinterhaut, und die Faktur als der "sinnlich wahrnehmbare nicdcrschlag (die einwirkung) des 183 werkprozesses. der sich bei jeder bearbeitung am matcrial zeigt", also das ästhetische Ergebnis der handwerklichen Herstellung. 2. Durch den Zweck, die Nutzung, den Gebrauchswerl des Objekts und die materielle Funktion des Objektteils. 3. Durch die Farbe. Farbwirkung, durch dekorative Konzepte und bildliche Darstellungen und deren materielle Grundlage. 4. Durch gewollte, anthropogene Veränderungen, zum Beispiel durch Anpassung an eine geänderte Nutzung, ein geändertes dekoratives Konzept, zum Beispiel durch Übermalung, durch Restaurierung und Reparatur. 5. Durch Verwitterung, Alterung, also spontane, in der Regel nicht bewusst herbeigeführte Veränderungen, durch physikalischen, chemischen, mikrobiologischen Austausch mit der Umgebung, auch durch Nutzung, Prozesse also, die häufig begünstigt werden durch Material-und Verarbeitungsfehler, durch Materialien und Methoden der Reparatur, der Renovierung und zuweilen auch der Konservierung und Restaurierung. Methodische Basis der Erhaltungspraxis muss die empirisch, naturwissenschaftlich und historisch begründete Kenntnis des Gegenstandes sein. Die kritische Auseinandersetzung mit der historischen Praxis der Erhaltung, auch der eigenen Praxis, schafft Instrumente für die Weiterentwicklung und mögliche Verbesserung moderner Methoden und Techniken. Folgende Problemkreise sind dabei zu untersuchen: -Historische Technik, -Historische Typologie (Geschichte der Erforschung), -Techniken der Reparatur und Restaurierung: gestern und heute, -Materialcharaktcristika und Prozesse der Alterung und Verwitterung, -Methoden der Untersuchung und Konservierung, -Methoden der Reparatur. Historische Technik Wer das Verhältnis zwischen Materie und Gestaltung verstehen will, muss zunächst erfassen, welche ästhetischen Folgen sich aus der Herstellungstechnik (Faktur), den verwendeten Materialien (Struktur) und ihrer gegenseitigen Einwirkung (Textur) sowie aus dem Zweck der Gegenstände ergeben. Erst vor diesem Hintergrund können Kriterien der Gestaltung, auch des nicht direkt mit den Notwendigkeiten der Materie verbundenen, sozusagen repräsentativen Teils der ästhetischen Wirkung (des Schmucks) sinnvoll erfasst werden." Ein Beispiel: (Abb. 1 a, b) Die unebene Oberflächenstruktur eines Verputzes auf Bruchsteinmauerwerk ist nur verständlich, wenn man die verwendeten Materialien und den Prozess seiner Herstellung kennt. 1 " Mittelalterliche Gerüste sind -wie immer in der historischen Technologie -mit möglichst geringem Einsatz von Ressourcen und Arbeit hergestellt. Sie bestehen aus Netzriegeln (Auslegern), welche die Bohlen (Gerüstbretter. Pfosten) tragen (Abb. 2). Die Netzriegel sind Rundhölzer oder Kanthölzer, die im Mauerwerk stecken. Ihre horizontalen Abstände sind unregelmäßig, um "Sollbruchstellen" im Mauerwerk zu vermeiden. Die Bohlen waren vor der Erfindung der Gattersäge und unter Bedingungen, in denen hart geschmiedete Sägeblätter nur schwer erschwinglich waren, oft nur aus gespaltenen und gebcilten Blöcken hergestellt." Manchmal sind die Netzriegcl noch schräg abgestützt. 12 Sie wur-den im Baufortgang (mit einer aus einem Keil bestehenden Unterlage) ca. 30 cm tief eingemauert, das heißt durch einen ca. 40-50 cm hohen Mauerstreifen so weit beschwert, dass der Maurer oder sein Helfer die Bohlen auflegen und auf die nächste Etage steigen konnte." Dann legte der Maurer in Gerüsthöhe, also im Absland zu den vorherigen Netzriegcln von insgesamt ca. 80-130 cm 14 wieder Netzriegel auf, beschwerte sie mit einem Mauerstreifen von ca. 40-50 cm, womit sich aus verständlichen Gründen 15 eine maximale Arbeitshöhe zwischen 120 cm und 180 cm ergab. Am häufigsten findet man eine maximale Arbeitshöhe von ca. 160 cm. Nur bei dieser Arbeitshöhe konnte ein Maurer normaler "mittelalterlicher" Statur von ca. 165 cm ohne besondere Mühe und Gefährdung und auf Sicht die obersten Mauersteine versetzen. Auf den erwähnten Mauerstreifen von ca. 40-50 cm hat der Maurer also weitere 60-70 cm Mauer aufgesetzt, die Netzriegel angebracht und wiederum mit ca. 40-50 cm Mauerstreifen beschwert. Die Darstellung auf dem rechten Außenflügel des St. Wolfgang-Altars von Michael Pacher gibt eine realistische Vorstellung von der Herstellung des Verputzes beim Abgcrüsten: Ein Helfer nimmt die Bohlen von den Netzriegeln, ein Maurer mit der Spitzkelle als einzigem Werkzeug in der Hand beugt sich über den (hölzernen) Mörteltrog. An historischen Spuren lässt sich ablesen, dass man in der Regel den Netzriegel nach der Entfernung des erwähnten Keils aus der Mauer gezogen und das entstandene Loch mit einem Stein oder Ziegel verschlossen hat. Zuweilen hat man die Netzriegel auch abgesägt oder sogar abgebrochen und etwas in die Mauer zurückgetrieben. Den begonnenen Verputz konnte man nun von oben nach unten weiterführen. Der Maurer stand, schon aus Sicherheitsgründen, möglichst ruhig auf den beiden Bohlen (Pfosten), die kein Geländer trugen. Er richtete sich nicht bei jedem Anwurf auf, sondern stand über seinen Mörtcltrog gebeugt und nahm sich mit der Kelle kleine Portionen des Mörtels und warf ihn an. Beim Anwerfen z. B. mit der rechten Rückhand hielt er seine Kelle zunächst im Bereich der oberen Grenze der Gerüstlage, also in ca. 80-130 cm Höhe in einem nach links oben gehenden Winkel. Der Anwurfwinkcl wurde flacher, je weiter unten, also je näher zu seiner Standfläche der Maurer anwarf. Der Mörtel enthält wenig hydraulischen Kalk und Sand. Der Sand besteht in der Regel, wie nicht anders zu erwarten, aus Material, das in der Nähe gewonnen wurde, zum Beispiel von den Sandbänken eines nahen Bachs. Die Kornform eines Bachsandes ist kantig, weil das Material im Wasser noch wenig gerollt ist. Das Bindemittel Kalk verklammert sich besser mit den kantigen Sandkörnern als mit dem rundlichen Korn eines Flusssandes. In den historischen Mörteln findet man bis ins 18. Jahrhundert weißliche Kalkstückc, Kalkspatzen genannt. Sic stammen vom sogenannten Trockenlöschen. Der zerkleinerte gebrannte Kalk (Stückkalk) wird schichtweise mit dem trockenen Sand gemischt und erst dann gelöscht. Die Reaktionshitzc und die Feinanteile des Sandes erzeugen eine hydraulische Reaktion, was die Qualität des Mörtels verbessert und die Verwendung als Mauermörtcl erst möglich macht."' Die Kalkspatzcn sind die nicht löschbaren, also zu niedrig oder zu hoch gebrannten Teile des Kalks. Sie können als Depot für Wasser und Kalk dienen, der im Sinterprozcss und zur Sclbstheilung zur Verfügung steht. 17
doi:10.11588/ih.2003.0.20991 fatcat:hqiqemlrf5arlngoeuvbh4ho2m