Homosexualität und Strafrechtsreform
Magnus Hirschfeld
1911
Deutsche Medizinische Wochenschrift
In dieser Wochenschrift vorn 16. Februar 1911 hat Gerichtsassôsor Dr. Albert Hellwig in Berlin-Friedenau einen Aufsatz "Homosexualität und Strafrechtsreform" veröffentlicht, in welchem er für Aufhebung des bisherigen § 175 StGB. ( § 250 des Vorentwurfs) eintritt. Bedauerlichdrweise enthält dieser Aufsatz aber einige sachliche Irrtümer und Fehlschlüsse, die nicht unwidersprochen bzw. nicht unberichtigt bleiben dürfen. Dabei sollen abweichende persönliche Anschauungen, wie a. 13. über das
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... rtum, ganz außer Betracht gelassen werden. Des Verfassers Grundirrtum, der sich wie ein roter Faden durch den ganzen Artikel hindurchzieht, besteht darin, daß er nur eine durch den § 175 bedrohte strafbare homosexuelle Handlung, dic Pädicatio kennt und der Ansicht ist, es handle sich bei dem ganzen Kampf gegen den § 175 nur um die Freigabe der Fädicatio. Nach den Entsclieidungen des Reichsgerichts werden aber auch noch viele andere homosexuelle Handlungen auf Grund des § 175 bestraft, wie Immissio penis in os, Coitus inter femora, Umschllingungen mit beischlafähnlichen Bewegungen und andere Handlungen, deren Kreis bis in die aeueste Zeit ständige Erweiterung erfahren hat.1) Es hätte schon der Umstañd, daß nach dem nejien Strafgesetz-Vorentwurf der Homosexualitäts-Paragraph auch auf die Frauen ausgedehnt werden soll, dem Verfaser den Gedanken nahelegen müssen, daß nicht etwa nur die Pädicatio. sondérn beischlafähnliche Handlungen ganz j m auge meinen unter Strafe stehen. : Die unrichtigen Voraussetzungen führen nun Dr. Hellwig dazi, über einige von ihm erwähnte einschlägige Schriften irrige Urteile zu fällen. Er bemerkt nämlich, daß man in den gegen deñ § 175 StGB. bzw. § 250 VE. erschienenen Abhandlungen und Broschüren "auf Schritt und Tritt auf miteinander nicht zu vereiñbarende Widersprüche" stolle und daß vor allem diese in der genannten Literatur enthaltenen "zahllosen unlogischen Widersprüche und nicht haltbaren Behauptungen" der Grund seien, weshalb der Gedanke an die Straflosigkeit der Pädicatio in Juristenkreisen nicht recht Fuß fassen" wolle. Das tatsächliche Vorhandensein der erwähnten Widersprüche will er dann, wie er sagt, nur an eine m markanten Beispiel" erläutern, Er weist darauf hin, daß F. Heinrich Winzer ii seiner Schrift "Der neue § 175 RStGB.", auf S. 27 die Bemerkung billige, daß fast 90 % aller Homosexuellen sich bloß einfach der gegenseitigen Manustupration hingeben, daß also etwa erst der zehnte Homosexuelle die strafbare Pädicatio vornehme und daß derselbe Autor schon -auf der nächsten Seite unter voller Billigung folgende Ausführungen wiedergebe : ,. . . Aus alledem ergibt sich der schreiende Gegensatz zwischen der Praxis und der-Theorie, daß Tausende, ja Hunderttausende ici stillen Taten ausüben -täglich, stündlich, -welche nun einmal nochì strafbedrohat sind, deren Strafe sie sich aber durch ihre Stellung, -ihr Vermögen, die Behaglichkeit ihres Privatlebens und durch hundertandere Vorteile leicht entziehn können, während bloß der einzelne, das Opfer -der Denunziation oder zufälligen Unglücks, zum Märtyrer und Sündenbock für die gesicherte Majorität wird etc." Hieraus zieht Dr. Hellwig den Schluß, daß der Kampf gegen den § 175 einmal mit dem seltenen Vorkomiiien der Pädicatio und ein anderes Mal mit dem häufigen -aber selten zur Bestrafung führenden -Vorkommen der Vergehen gegen jenen Paragraphen (er meint die Pädicatio) begründet werde, was ihm den elementaren Grundsätzen der Logik zu widersprechen scheine. -Es wäre in der Tat ein Widerspruch, -wenn Winzer eine derartige Begründung beabsichtigt hätte. Es ist das aber ganz und gar nicht der Fall. Jehe von Winz ei angeführten Sätzu sind nämlich der fachwissenschaftlichen -Zuschrift entnommen, welche im Jahre 1869 zur Widerlegung der Motive zu dem damaligen § 152 (jetzt § 175) des StGB. für den Norddeutschen Bund an den Justizminister Dr. Leonhardt gerichtet worden ist, und diese Zuschrift wird von Winzèr als Zitat wiedergegeben, weil sie,-wie er hinzufügt, "-von ihrer nach der physiologischen Seite unrichtigen Taxierung der Onanie und einigen andèren irgendwie rückständigen Angaben abgesehen -gañz "modern" anmutet." Winzer verwahrt sich also von vornherein dagegen, daß er etwaige unrichtige Angaben -dieser Zuschrift billige. Eine solche unrichtige Angabe ist nun die, daß etwa 90 % aller Homosexuellen sich der gegenseitigen Manustupratìon ergeben, während-in Wirklichkeit viele Tausende auch die übrigen obengenannten Handlungen (Immissio in os. Coitus -inter femora etc.) vornehmen, die im (egensatz zur gegenseitigen Mnustupration, wie wir gesehen haben, strafbar sind. Es ist daher irrig, wenn Dr. Hellwig behauptet, Winzer billige die in Rede stehende Angabe in jener ersten von ihm zitierten Stelle. -I) Vgl. Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen, Jahrg. 8, S. 900--912. 23. März 1911. DETJTSCH] MEDIZINISCHE WOCHENSCHEIFT. Heruntergeladen von: NYU. Urheberrechtlich geschützt.
doi:10.1055/s-0028-1130556
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