Arbeitszeit und Zeit zum Leben

Heinrich Oberreuter
2022
Die Arbeit verliert ihren zentralen Wert. Verliert die Arbeit wirklich ihren zentralen Wert? Erinnert man sich an populäre Ansätze der Wertwandel forschung Ende der siebziger Jahre, dann war dieser Zentralitätsverlust ganz unvermeidlich. Denn geradezu deterministisch wurde die Gesell schaft nach der Befriedigung aller materiellen Bedürfnisse zur »stillen Revolution« verdammt -zur postmaterialistischen Revolution (Ronald Inglehart). Ideelle Werte und Zielsetzungen wie persönliche Selbstverwirk
more » ... chung, Mitwirkung an Entscheidungsprozessen, Lebensqualität, Siche rung der natürlichen Lebensgrundlagen sollten uns geradezu konkurrenz los beherrschen, materielle Orientierungen wie wirtschaftliche Stabilität, Einkommen, Besitz, Tradition und Ordnung nicht nur zurücktreten, son dern in einem kontinuierlichen, undramatischen Prozeß des Wertwandels gänzlich abgelöst werden. Es war nie einsichtig, warum materielle und immaterielle Werte nicht in einer spannungsreichen Synthese nebeneinander Wirksamkeit entfalten können sollten. Und stets waren Zweifel angebracht, ob sich die Gesell schaft immaterielle Orientierungen nicht immer nur insoweit leisten kann, wie der materielle Plafond trägt. Doch in der Tat ist es richtig, daß es hierzulande eine Phase gab, in der Leistungsbereitschaft und Arbeitsfreude sanken, die Vorstellung, es wäre am schönsten zu leben, ohne arbeiten zu müssen, zunahm und der Erleb nishunger der Freizeitgesellschaft ins Unermeßliche zu wachsen schien. Doch waren wir deswegen alle in Gefahr, Proletarier zu werden, wie Elisa beth Noelle-Neumann in einer 1978 erschienenen Publikation bange frag te? Oder ist es nicht vielmehr so, daß der Mensch in der Tat nicht nur lebt um zu arbeiten? Haben wir es nicht stets als kulturellen Fortschritt emp funden, menschliche Arbeitskraft durch Technik zu substituieren -gerade H einrich O derreuter, Jahrgang 1942, ist Professor fü r Politikwissenschaft an der Univer sität Passau und Direktor der Akademie fü r Politische Bildung Tutzing.
doi:10.57975/ikaz.v27i3.5100 fatcat:j2sryyfvozhyhiljwhsmt4elpq