Gründungsmythos und nationales Gedächtnis: Wiedergeburt der italienischen Nation in der Resistenza
Kerstin Von Lingen
unpublished
In Italien hat sich nach 1945, mit dem Segen der politischen Parteien, eine Erinnerungskultur herausgebildet, die auf dem antifaschistischen Gründungsmythos aufbauend eine Differenzierung der eigenen Anteile am Kriegsgeschehen, an Besatzungsterror und Kriegsverbrechen jahrzehntelang vermieden hat. Eine ganze Nation verdrängte die 22-jährige Herrschaft des Faschismus und die eigene Rolle darin wie eine überstandene Kinderkrankheit und betonte stattdessen das nationale Opfer der
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... . In der Erinnerungskultur Italiens bildete sich seit 1945 dadurch eine Art doppelte Kriegserinnerung an Krieg und Faschismus heraus, die die Gesellschaft vielfach trennt statt verbindet ("memoria divisa"). "Memory is not only a victory over time, it is also a triumph over injustice", so Elie Wiesel anlässlich der Eröffnung des Washingtoner Holocaust Museums im Jahr 1993.[1] Erinnerung formt, so die Aussage, nicht nur die eigene nationale Identität, sondern ist auch geeignet, angesichts nationalen schuldhaften Verhaltens das Gleichgewicht zwischen Tätern und Opfern wieder herzustellen. Als Überlebender der NS-Verbrechen stellte Wiesel damit eine Forderung für den internationalen Umgang mit der Vergangenheit, die nach dem Ende des Kalten Krieges richtungweisend wurde.[2] Gesellschaftliche Umbrüche infolge militärischer oder politischer Konflikte haben die Welt im 20. Jahrhundert geprägt. Dem Ende des Krieges folgte eine längere Übergangsphase gesellschaftlicher Transformation, in der die Nation eine Unterscheidung in die "Guten" und die "Bösen" auf Grundlage des Verhaltens in der Kriegszeit vornahm. Der Erfolg der Abrechnungsphase galt als Indikator für die Stabilität der Nachkriegsstaaten. Der erzielte "Gründungskonsens" darüber, was der neue Staat erinnern sollte, wurde Grundlage für die Neudefinition nationaler Identität und formte dessen moralisch-gesellschaftliche Basis. Aus der Art des Zustandekommens gesellschaftlichen Friedens nach der Abrechnung können Rückschlüsse darauf gezogen werden, wie sich die Säuberungsprozesse auf die Ordnungskonfiguration der nationalen Identität auswirkten.
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