Gibt es den sprachlichen Fingerabdruck? Oder: Was kann die Kriminalistik von der Sprachwissenschaft erwarten?
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Norbert R. Wolf, Ulrike Haß-Zumkehr
2002
Sprache und Recht
Oder: Was kann die Kriminalistik von der Sprachwissenschaft erwarten? Gewissermaßen als öffentlicher Abschluss der so genannten ,Barschel-Affäre' tauchte nach dem Tode des Politikers ein Brief auf, in dem Barschel seinem damaligen Partei-Vorsitzenden in Schleswig-Holstein vorwarf, von allen Machenschaften gewusst, aber keinerlei Unterstützung gewährt zu haben. Dieser Brief wurde im ARD-Magazin ,Panorama' am 18. Oktober 1988 einem .forensischen Linguisten' gezeigt, der aufgrund einiger weniger
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... xikalisch-stilistischer Kriterien zu dem Urteil kam, dass der Brief authentisch sei; diese Beurteilung gipfelte in dem Satz: "Dieser Brief ist keine Fälschung." Zudem sprach unser Linguoforensiker von einem "sprachwissenschaftlichen Fingerabdruck" 1 , wobei er sicher einen sprachlichen Fingerabdruck' meinte. In der Folge stellte sich heraus, dass der Brief eine Fälschung war: Die Unterschrift Barscheis war kopiert worden; das Ganze soll sogar eine Destabilisierungsaktion der DDR-Staatssicherheit gewesen sein. 2 Gleichwohl, das linguistische Gutachten, durch das Fernsehen verbreitet, erregte die öffentlichen Gemüter. In einem satirischen Artikel formulierte die Hamburger Wochenzeitschrift ,Die Zeit', dass es dem forensischen Linguisten geglückt sei, "Laien für jene sprödeste aller Geisteswissenschaften zu interessieren", und prophezeite gleichzeitig, dass nach einer genaueren Prüfung vor allem durch "Zweifler und Mäkler" des Bundeskriminalamts "die Linguistik" bald wieder das sein würde, "was sie bislang war: eine Orchidee aus Papier, kein Fall fürs Leben" (Müller-Schöll 1988, S. 57). Der televisionäre Sachverständige hatte, wie schon gesagt, von einem "Fingerabdruck" gesprochen. Ein Fingerabdruck ist nach allgemeinem Verständnis ein "auswertbarer, die Linien der Haut erkennen lassender Abdruck der Innenfläche eines Fingers" (Duden 1999 , Bd. 3, S. 1240), wobei das Adjektiv auswertbar als Attribut zu Abdruck bedeutet, dass ein Fingerabdruck ein individuelles Kennzeichen ist, das einer und nur einer Person zukommt. 1 Vgl. die zusammenfassende Dokumentation dieses Falls bei Grimm (1991, S. 9). 2 Auf die methodischen Fehler des linguistischen Gutachters geht ausführlich Steinke (1990 S. 326-328) ein.
doi:10.1515/9783110622836-021
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