BESPRECHUNGEN
1921
Zeitschrift für Romanische Philologie
Die Verwendung des romanischen Futurums ah Ausdruck eines sittlichen Seitens. Gekrönte Preisarbeit der Samson-Stiftung bei der Bayr. Akademie der Wissenschaften. Leipzig, O. R. Reisland, 1919. VI, 4*7 S. S». Den Vorwurf zu dieser Studie hat der Verf. von seinem Lehrer Vossler erhalten, dem beim Stellen der Preisaufgabe wohl die Idee vorschwebte, es mochte einmal eine einzelne syntaktische Erscheinung im engsten Zusammenhang mit der Geschichte der Volkspsyche betrachtet werden. In welcher Art
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... s geschehen kann, hat uns ja V. in seinem Buch über "Frankreichs Kultur im Spiegel seiner Sprachentwicklung" in grofsen Zusammenhängen gezeigt. Doch war bis jetzt noch keine SpezialUntersuchung irgend einem syntaktischen Problem mit solcher Fragestellung auf den Leib geruckt. Die Arbeit von L. verdient schon aus diesem Grunde ganz besondere Beachtung. Die Erscheinung, dafs das Futurum die Bedeutung eines Imperative annehmen kann, ist ans vielen Sprachen bekannt (Griechisch, Lateinisch, Deutsch, romanische Sprachen). Es ist von vornherein kanm wahrscheinlich, dafs die semantisohe Obereinstimmung der beiden Verbalformen eine absolute sei; eine solche gibt es nicht innerhalb einer Sprache, weder in den Formen noch im Wortschatz, noch in der Syntax. So ist denn auch von romanistischer Seite wiederholt versucht worden, die fragliche Erscheinung in ihrem Eigenwert genauer zu erfassen. So haben insbesondere schon Meyer-Lubke und Strohmeyer beobachtet, dal· das Futurum eine "bescheidenere", eine "abgeschwächte" Form des Befehls darstellt, während andere, wie Soltmann und J. Haas sich eigentlich mit der Konstatierung der Tatsache begnügen. Mit den beiden ersteren teilweise im Einklang, aber über sie hinausschreitend, gelangt L. zu dem Ergebnis, dafs das Heischefuturum in zwei Spielarten vorkommt, einer kategorischen und einer suggestiven. Beide haben einen gemeinsamen Ausgangspunkt: dafs nämlich der Wille des Angesprochenen gar nicht in Berücksichtigung gezogen wird. Durch den Imperativ suche ich meinen Willen dem mir gegenüberstehenden Menschen aufzudringen, und setze mithin voraus, dafs der andere bisher eine selbständige Willensrichtung gehabt habe. Ich anerkenne also das Vorhandensein des Willens des Mitmenschen und rechne mit ihm. Durch Anwendung des Futurums aber stelle ich dasjenige, was ich verwirklichen mochte, als in der Zukunft real existierend hin; ich bezeuge damit, dafs es meiner Auffassung nach zur Verwirklichung des Objekts genügt, wenn mein Wille die angegebene Richtung eingeschlagen hat. Der Wille Brought to you by | Nanyang Technological Univ Authenticated Download Date | 6/7/15 3:25 PM EUG4N LERCH, DIE VERWENDUNG DES ROMAN. FOTÜRÜMS ETC. 365 meines Mitmenschen kommt gar nicht in Betracht. Ich setze mich über ihn hinweg, und das kann auf zwei Wegen zustande kommen: entweder erwarte ich Widerstand und deute mit dem Futurum an, dais dieser Widerstand von vornherein als aussichtslos anzusehen ist (kategorisches Futurum, Beispiel: tu le feras); oder aber ich setze ohne weiteres voraus, dafs der Wille des anderen mit dem meinen übereinstimmt und will durch Anwendung des Futurums diesen blofs noch anregen, ihm seine Übereinstimmung mit mir so recht zum Bewufstsein bringen (suggestives Futurum, Beispiel: vous boire* encore un verre). Beide unterscheiden sich nur im Tonfall von einander, sind aber reinlich zu trennen. Den Satz: vous ru partirez pas, kann ich so aussprechen, dafs er bedeutet: Sie werden nicht abreisen, auch wenn Sie wollten; es genügt, dafs ich mich Ihrer Abreise widersetze, um sie zu verhindern. Ich kann aber durch einen anderen Tonfall die Bedeutung hineinlegen: Wenn Sie jetzt schon tun, als ob Sie abreisen wollten, so weifs ich doch sehr wohl, dais Sie im Grunde auch lieber noch bleiben; Sie werden Ihnen selber und mir nicht das Leid antun, jetzt schon zu verreisen. Das erste ist, wie man sieht, stärker, das zweite schwächer als der Imperativ, aber "beide Ausdrucksweisen kommen darin zusammen, dafs ich den Eigenwillen des Angeredeten nicht genügend respektiere, dafs ich über ihn verfüge wie über einen mir gehörigen Gegenstand". In diese zwei Abteilungen des kategorischen und des suggestiven Futurums getrennt bringt nun L. seine aufserordeotlich reichhaltige Beispielsammlung, innerhalb jeder zahlreiche feine Nuancen unterscheidend. Zweifellos ist diese Belegschau mit ihrer überaus treffenden Interpretation der Bedeutungsabstufung der glücklichste und fruchtbarste Teil des Buches; er zeugt von einer wirklich hervorragenden Einfühlungsgabe des Verfassers in die psychische Disposition, die den Texten zugiunde liegt. Dais man selber da und dort einzelne Stellen anders auffafst, bleibt demgegenüber unwesentlich. Hingegen sind die verschiedenen Kategorien, in die z. B. die kategorischen Gebote eingeteilt werden (alternative Aufforderung, einfache kategorische Befehle, kategorische Bitte, kategorischer Rat, kategorische Frage, prohibitive Frage), oder in die das suggestive Futurum gebracht wird (suggestiver Befehl, suggestive Aufforderungen, Aufträge, Bitten und Gebete, Vorschläge, Ratschläge, Zugeständnisse) eine wirkliche Bereicherung unserer syntaktischen Betrachtungsweise. Durch die genußreiche Lektüre der Beispiellisten kann sich jeder überzeugen, dafs diese Unterscheidungen nicht etwa hypersubtile Hirngespinste des Verf. sind, sondern wirklich Realitäten entsprechen. In der Verfeinerung der Methode liegt zweifellos der Hauptwert des ganzen Buches. Er liegt durchaus im ersten Teil der Studie, in der Systematik. Weniger gelungen scheint mir der zweite, historische Teil. Hier beschränkt sich L. auf das Französische, das schon im systematischen Teil die überwiegende Mehrzahl der Beispiele geliefert hat. Er glaubt behaupten zu dürfen, dafs das Französische dem Heischefuturum in ganz besonders hohem Mafse zugetan sei, jedenfalls ungleich viel mehr als das deutsche. Diesen Unterschied sucht er im Charakter der beiden Völker zu verankern. Für ihn entspricht die häufige Verwendung des Heischefuturum durch den Franzosen seinem Mangel an Ehrfurcht vor der Individualität des ändern, seiner geringen Fähigkeit, sich in diesen hineinzudenken und hineinzufühlen, seiner Impulsivität und seinem Fanatismus. Daran schliefst er eine eingehende Schilderung des Brought to you by | Nanyang Technological Unive Authenticated Download Date | 6/7/15 3:25 PM
doi:10.1515/zrph.1921.41.1.364
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