Warum eine Minderheitsregierung niemand wollen kann
Florian Meinel, Fachinformationsdienst Für Internationale Und Interdisziplinäre Rechtsforschung
2017
Der verfassungsmäßige Weg zu einer Minderheitsregierung ist einfach: Nach Art. 63 Abs. 1 GG müsste Bundespräsident Steinmeier dem Bundestag einen Kandidaten für das Amt des Bundeskanzlers vorschlagen. Die Wahl zum Bundeskanzler setzt nach Art. 63 Abs. 2 S. 1 GG eine Mehrheit der Mitglieder des Bundestages voraus -daher der Begriff Kanzlermehrheit. Weder die Bundeskanzlerin noch ein anderer Exponent der CDU kann im Augenblick auf diese Mehrheit hoffen. Die Wahl würde also vermutlich scheitern.
more »
... dann fände nach einer Frist von 14 Tagen ein weiterer Wahlgang statt; so bestimmt es Art. 63 Abs. 4 S. 1 GG. Würden auf die Bundeskanzlerin in diesem Wahlgang -sagen wir -die 313 Stimmen der CDU/CSU und der Grünen entfallen, so könnte der Bundespräsident entweder die Bundeskanzlerin erneut ernennen oder den Bundestag auflösen. Letzteres Szenario ist, den manifestierten Regierungswillen der Minderheit immer vorausgesetzt, freilich äußerst unwahrscheinlich. Bei den bisherigen Auflösungen des Bundestages handelte der Bundespräsident stets in enger Abstimmung mit der Regierung. Und warum sollte der Bundespräsident die gesinnungsstolze politische Gruppentherapie seiner eigenen Partei in der Opposition aufmischen? Renaissance des Parlamentarismus? So gäbe es sie dann also, die Minderheitsregierung, die als Mehrheitsregierung schon 2013 möglich gewesen wäre, die damals aber (zu) wenige wollten. Sie bliebe im Amt, bis -ja, bis wann? Dass die split opposition des 19. Deutschen Bundestages einen anderen Bundeskanzler inthronisiert, ist wenig wahrscheinlich, und einen anderen verfassungsmäßigen Weg als den des Art. 67 GG gibt es nicht. Aber würde die Regierung nicht spätestens am Budgetrecht des Parlaments, also an den nächsten Haushaltsberatungen zerbrechen? Kaum. Dass ausgerechnet SPD und Linke das Budgetrecht als Kampfmittel entdecken und das Land in einen budgetlosen Zustand versetzen, ist eher unwahrscheinlich. Würde ihnen auch schlecht bekommen. Was spricht also verfassungsrechtlich gegen eine Minderheitsregierung? Oder vielmehr: Spricht nicht gerade verfassungspolitisch sehr viel dafür, eine Minderheitsregierung zu wagen? Landauf, landab sind sich die Beobachter und kritischen Teilnehmer unserer Verfassungszustände ja schon lange darin einig, dass das Parlament gestärkt werden muss. Was sowohl Norbert Lammert als auch das Bundesverfassungsgericht finden, ist zweifellos richtig -in dieser Allgemeinheit freilich auch belanglos. Wie also würde sich eine Minderheitsregierung auswirken auf das Verhältnis von Parlament und Regierung? Gerade das ist es ja, was sich ihre verfassungsrechtlichen Befürworter heute von einer Minderheitsregierung erhoffen: eine Renaissance des Parlamentarismus. Ein Parlament, das nicht mehr von Koalition und Kanzleramt vor vollendete Tatsachen gestellt und als Schallraum regierungsamtlicher Kommunikation gebraucht wird. Eine Bundesregierung, die demütig ihre Vorhaben dem ganzen Parlament erklärt und bei wechselnden Mehrheiten um Unterstützung für ihre Vorhaben wirbt. Die die Debatten auf diese Weise von den Ausschüssen und Koalitionsrunden wieder in das Plenum trägt. Die vielleicht überhaupt weniger regiert als das Parlament wieder selbst entscheiden lässt. Solche Vorstellungen sind aber, bei allem Respekt, romantischer Unfug und beruhen auf grundsätzlichen Fehlvorstellungen über das Regierungssystem im Allgemeinen und die heutige Verfassungslage im Besonderen. Warum? Das parlamentarische Regierungssystem als Wille und Vorstellung Erstens: Die Vorstellung, dass ausgerechnet eine stärkere politische Dissoziation von Parlamentsmehrheit und Bundesregierung das Parlament stärken könnte, geht von einer Ideologie der Gewaltentrennung aus, die der Verfassung ganz fremd ist. Derartige Vorstellungen von Gewaltenteilung waren seit dem 18. Jahrhundert nicht nur in Deutschland immer die Spielwiese von Doktrinären und Romantikern, haben jedoch nichts mit der 1/3
doi:10.17176/20171120-160633
fatcat:nimrknp4lzh3nazsdzfpmm2tmi