"Wir sind (k)ein Volk." Interview mit Christoph Hein

Peter Teupe, Ulrike Weber
1992 GDR Bulletin  
Richter: Dieses unter-der-Decke-Hervorkommen scheint oft bestraft zu werden. Maron: Wie denn? Richter: Nehmen Sie zum Beispiel den Fall von Anita Hill, die sich öffentlich dazu bekannt hat, sexuell belästigt worden zu sein, dadurch aber erniedrigt worden ist. Maron: Ich habe gehört, die macht nun Karriere. Richter: Man glaubte ihr nicht, bezichtigte sie der Lüge, tat ihre Vorwürfe als hysterische Ausschreitungen ab, diffamierte sie. Maron: Nun Gott, wenn mir jemand einen pornographischen Witz
more » ... zählt, dann sage ich, er soll die Klappe halten und fühle mich nicht belästigt. Richter: Auch wenn er Ihr Vorgesetzter ist und Sie damit Ihre Laufbahn aufs Spiel setzen? Maron: Ja, dann sage ich, er soll jetzt leise sein. Es gibt auch eine Möglichkeit, sich das vom Halse zu halten. Ich glaube auch, daß diese Überreaktion der Gesellschaft hier auch ein bißchen am amerikanischen Puritanismus liegt. Gestern erzählte mir ein Student, daß, wenn eine amerikanische Studentin herein kommt und der Playboy noch auf dem Tisch liegt, diese sich dann gekränkt und beleidigt fühlt. Man kann auch mit einem Scherz antworten: Haste das nötig, oder sowas. Ich glaube, das ist ein Gefühl der Unterlegenheit, was sich dann so äußert. Aber ich würde mich nicht belästigt fühlen, ich fand' den blöd, das ist was anderes. Ich fühle mich durch ganz andere Sachen belästigt. Wenn man zum Beispiel einen Chef hat, der politisch anderer Meinung ist. Man weiß, wenn man widerspricht, gefährdet man die eigene Karriere. Ist das dann politische Belästigung? Solche Sachen stören mich nicht weniger und nicht mehr. Das hieße, wenn ich mich durch sowas belästigt fühlte, daß ich den Männern eine Bedeutung und eine Überlegenheit einräumen würde, die ich ihnen gar nicht zugestehe. Richter: Große historische Ereignisse tendieren seit jeher dazu, auf das jeweilige Literaturverständnis der die Vorgänge umgebenden Kultur zu wirken. Dies war während der Nachbeben der Französischen Revolution nicht anders als denen des Holocaust; nach letzterem erklärte etwa Adorno die Poesie zu einer Nicht-mehr-Möglichkeit. Auch die soziale Revolution der sechziger Jahre brachte in den westlichen Gesellschaften ein bestimmtes Bild der "engagierten" Literatur mit sich hervor. Zeichnet sich Ihres Ermessens in Folge des Mauerfalls ein neues Literaturbild in Ost und West ab? Maron: Für den Westen glaube ich das eigentlich nicht. Es gibt, glaube ich, da keinen einzigen Schriftsteller, der durch den Mauerfall so tief erschüttert wurde, daß er jetzt plötzlich ganz anders schreibt. Im Osten nehme ich an, daß erst einmal eine große Differenzierung einsetzen wird, da die Leute ja gebunden waren durch diesen einen Gegenstand, das Politische, im Guten wie im Bösen, alle fixiert waren auf diese Sache, die sie auch noch eine Weile beschäftigen wird. Die Autoren werden ihrer eigenen Passion folgen können, also nicht mehr der allgemeinen Lage, von der sie magnetisch angezogen wurden; sie werden vielleicht herausfinden, was sie ganz besonders reizt. Das erwarte ich da. Im Westen, denke ich, ist das längst passiert. Und, möglicherweise, wenn das Leben im Westen ökonomisch erschüttert wird, was ja zu erwarten ist, wenn sich die Bedingungen grundsätzlich ändern, wenn das Leben wieder existentiellere Fragen stellt, dann wird sich da vielleicht auch etwas ändern, aber das ist im Moment wohl nicht absehbar.
doi:10.4148/gdrb.v18i1.1025 fatcat:yxfy6n3l6ratnpvcnjlx3mydcm