Die Ohnmacht der Wissenschaft gegenüber Geschichtsmythen
František Graus, Vorträge Und Forschungen
2015
Der Titel meines Vortrages formuliert eine These, die für jeden, der mit den Geschicken historischer Erkenntnisse auch nur einigermaßen vertraut ist, keine große Überraschung in sich birgt. Sie scheint den Referenten dazu zu verurteilen Allgemeinbekanntes zu illu strieren, es bestenfalls durch weniger bekannte Beispiele zu erhärten. Denn die Tatsache, daß über vergangene Ereignisse viel Unsinn, oft mit bewußter Tendenz und Absicht, er zählt wird, ist allbekannt und nur zu oft werden alle
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... lungen und Fabeleien »Ge schichtsmythen« genannt, wobei diese Bezeichnung sehr allgemein aufgefaßt wird. Es wäre einfach Beispiele zu häufen, die die Machtlosigkeit der Geschichtswissenschaft gegenüber falschen Darstellungen beweisen, den vergeblichen Kampf gegen fest verwurzelte Vorstellungen illustrieren, und solch eine Aufzählung könnte schier endlos sein. Man könnte etwa -für Deutschland bei Caesars bewußt tendenziöser Darstel lung der Germanen beginnen, über Tacitus, die Humanisten, Historiker und Schriftstel ler hin bis zur Gegenwart die Darstellung der Geschichte abschreiten, bei Arminius ver weilen, der sich zu Hermann dem Cherusker wandelte, den Kaisern des Mittelalters, Friedrich d. Gr. und viele andere als Beispiele wählen und so die Peripetien von Entstel lungen, Legendenbildung und Mythisierung illustrieren. Das Ergebnis dieses Vorgehens wäre das erhebende Gefühl, daß wir es doch etwas besser wüßten als der »Mann auf der Straße« und die Frustration, daß wir einen letztlich aussichtslosen Kampf durchfech ten. Der Kampf gegen offensichtliche Irrtümer erscheint selbst auf wissenschaftlichem Ge biet als wahre Sisyphusarbeit: Kaum vermeint man einen Unsinn ausgerottet zu haben, entstehen flugs zwei neue und die Mitarbeiter der Massenmedien versäumen keine Ge legenheit, selbst den größten Stumpfsinn auszugraben, wenn er nur recht »aktuell« aufge möbelt werden kann und einer Zeitmode oder den entsprechenden Vorurteilen ihres Pu blikums entspricht. Aber das Aufzählen von solchen Fällen würde diesen Vortrag zu einer geistigen Klagemauer umfunktionieren, der vielleicht zu einer Art von Selbstbestätigung, aber kaum weiter führen könnte. Gestatten Sie mir daher, einen anderen Weg einzuschlagen: Ich möchte die These von der Machtlosigkeit der Geschichtswissenschaft gegenüber den Geschichtsmythen als er wiesen voraussetzen und die Frage nach der Art dieser Gebilde aufwerfen und mich der Untersuchung zuwenden, inwiefern die Geschichtswissenschaft (Historie) an diesem Zu stand mitschuldig ist.
doi:10.11588/vuf.2002.0.17848
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