4.1 VOM EIN-GESCHLECHT-MODELL
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2022
Spectatoriale Geschlechterkonstruktionen
Um ein Vorverständnis für den sozial-und diskursgeschichtlichen Kontext zu erzeugen, in dem die Moralischen Wochenschriften entstanden sind, wird in diesem Kapitel die Redefinition der Kategorie 'Geschlecht' beschrieben, 1 die sich im Laufe des 18. Jahrhunderts vollzieht. Dazu wird der Übergang vom 'Ein-Geschlecht-Modell', das den Unterschied zwischen Frau und Mann graduell annimmt, zu einem komplementären 'Zwei-Geschlechter-Modell' (cf. Laqueur 2003) nachgezeichnet, das von einem qualitativen
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... nterschied zwischen Frau und Mann ausgeht. Diese Veränderung in der Wahrnehmung der weiblichen und männlichen Geschlechtskörper hat eine kulturelle Neubestimmung der Geschlechterverhältnisse zur Folge, die sich ebenfalls in einer Verschiebung der Auffassung von Tugendhaftigkeit niederschlägt. Da Tugendhaftigkeit (gemeinsam mit ihrer Opposition, der Lasterhaftigkeit) in den spectatorialen Geschlechterdiskursen laufend thematisiert wird, wird dieser begriffliche Wandel in diesem Kapitel ebenfalls erörtert. VOM EIN-GESCHLECHT-MODELL Das binäre, hierarchische Geschlechtermodell, das heute in der westlichen Gesellschaft weitverbreitet ist und als 'natürlich' (i. e. vordiskursiv und essenzialistisch) sowie 'geschichtslos' angesehen wird, ist "eine 'Erfindung' der bürgerlichen Moderne" (Maihofer 1994, 182), die sich im ausgehenden 18. Jahrhundert ausgebildet hat. Bis weit in das Aufklärungszeitalter hinein ist die soziale Position von Frauen und Männern innerhalb der Gesellschaft nicht über ihr biologisches Geschlecht definiert, sondern über ihren Stand, ihre Zunft oder ihren Ehestatus. Ganz massiv bestimmt natürlich 1 Wie bereits zu Beginn der vorliegenden Arbeit bemerkt, wird der Terminus 'Geschlecht' im Sinne diskursanalytischer Ansätze (Judith Butler) als ein diskursives und nicht als ein natürliches oder ahistorisches Phänomen angesehen -unabhängig davon, ob vom sozialen Geschlecht, für das sich im Englischen (und in der deutschen Fachsprache) 'gender' eingebürgert hat, oder vom biologischen (Körper-)Geschlecht (englisch 'sex') die Rede ist. Geschlecht ist somit in der kulturellen Gesamtkonstellation eine Kategorie unter anderen, die mit den soziokulturellen Rahmenbedingungen von einer Epoche zur anderen variieren kann.
doi:10.1515/9783839461037-016
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