Im Streit gestärkt oder umstrittener als behauptet? Zehn Jahre diplomatische Kontroversen über die Schutzverantwortung

Gregor Hofmann
unpublished
Zusammenfassung Zehn Jahre ist es her, dass die Generalversammlung der Vereinten Nationen einstimmig eine Responsibility to Protect (R2P), eine gemeinsame Schutzverantwortung der Staaten und der internationalen Gemeinschaft, anerkannte. Damit sollte die kontroverse Debatte über humanitäre Interventionen in einen Konsens darüber überführt werden, dass der Schutz der Bevölkerung vor extremen Gräueltaten Bestandteil und Voraussetzung nationaler Souveränität ist. Doch ist die R2P wirklich anerkannt
more » ... und wie hat sie sich in den zehn Jahren seit ihrer Verabschiedung entwickelt? Dieser HSFK-Report zeigt auf, wie das in der R2P enthaltene Bündel moralischer Normen gerade durch die Auseinandersetzungen der Staaten über die Bedeutung und Anwendung dieser Normen am Leben erhalten und weiter entwickelt wurde: Die Teilaspekte Prävention und internationale Unterstützung finden breite Akzeptanz, während gleichzeitig der Aspekt des internationalen Eingreifens bei Gräueltaten hoch umstritten bleibt. Die zum Teil heftigen Auseinandersetzungen hatten aber konstruktive Auswirkungen, indem sie Reform-und regionale Umsetzungsinitiativen angestoßen haben, ohne die die R2P heute wahrscheinlich weniger Anerkennung finden würde. Die R2P ist ein Bündel von Normen, das mehrere an Staaten und internationale Organisationen gerichtete Verhaltenserwartungen beinhaltet. Erstens die Verantwortungsnorm, d.h. die Erwartung an den Einzelstaat, seine Bevölkerung vor Genozid, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und ethnischen Säuberungen zu schützen (1. Säule); zweitens die Unterstützungsnorm, d.h. die Erwartung an die internationale Gemeinschaft, den Einzelstaat auf Anfrage bei der Erfüllung der an ihn gerichteten Erwartung zu unterstützen (2. Säule); drittens die Reaktionsnorm, d.h. die Erwartung an die internationale Gemeinschaft und den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, in Fällen des Scheiterns oder Unwillens einer Regierung zeitnah und entschieden zu reagieren (3. Säule). Als Resolution der Generalversammlung schafft der Beschluss keine neuen völkerrechtlichen Normen, sondern vielmehr eine Ausformulierung moralischer Normen. Zur Analyse der Anerkennung und Umstrittenheit dieser Normen untersucht dieser Report den Diskurs über die R2P, ihre Anwendung in Krisensituationen und Anzeichen für ihre Institutionalisierung. Es wird deutlich, dass das Normenbündel der R2P als Ganzes moderate Anerkennung in der Staatengemeinschaft findet. Im Diskurs stößt die R2P auf Zustimmung in der Staatengemeinschaft, doch haben viele Staaten Vorbehalte. Regelrechtes Marketing für R2P von Nichtregierungsorganisationen, engagierten Einzelpersonen, Diplomaten aus verschiedenen Staaten und dem Sekretariat der Vereinten Nationen hat zwar die vergleichsweise schnelle Entwicklung der R2P von einer Idee zu einem in den VN nominal immer stärker verankerten Normenbündel ermöglicht. In der Medienarbeit, bei Veranstaltungen von R2P-Unterstützern, aber auch in manchen akademischen Publikationen, wird der Stand der Anerkennung der R2P unter Staaten aber auch teilweise gezielt übertrieben, um so sozialen Druck auf die Staaten und den Sicherheitsrat zur Normenbefolgung aufzubauen. De facto haben viele Staaten Vorbehalte gegen die Reaktionsnorm unter der R2P und verweisen auf möglichen Missbrauch durch II Großmächte. Wie Prävention von und Reaktion auf Gräueltaten im Einzelnen umgesetzt werden soll, ist hoch umstritten. Die Beschränkung nationaler Souveränität ist immer noch ein heißes Eisen für Staaten des globalen Südens. Insbesondere in Fällen, in denen es zu einer internationalen Intervention ohne Zustimmung der einheimischen Regierung kommt, herrscht bei vielen Staaten Misstrauen über die Motive der Intervenierenden vor. Gewaltsam erzwungene Regimewechsel, wie in Libyen 2011, finden keine Akzeptanz. Der Sicherheitsrat wendet die R2P selektiv an, auch wenn sich immer häufiger bestätigende Bezüge auf die Schutzverantwortung in Sicherheitsratsresolutionen finden -bereits 31-mal seit 2005. Doch die meisten dieser Referenzen beziehen sich nicht auf das gesamte Normbündel, sondern nur auf die Verantwortung des Einzelstaates. Dies hängt mit der Umstrittenheit der dritten Säule zusammen, d.h. die Frage der richtigen Reaktion auf Gräueltaten. Entwicklungs-und Schwellenländer bevorzugen friedliche Instrumente der Reaktion und sehen Dialog als besten Weg zur Konfliktlösung, während einige westliche Staaten häufig darauf drängen, VN-Blauhelmmissionen mit dem Schutz von Zivilisten zu beauftragen oder gar selbst zum Einsatz von Gewalt greifen wollen, wie in Libyen oder der Elfenbeinküste. In extremen Fällen müsse aber gerade die Umsetzung der vom Sicherheitsrat mandatierten Zwangsmaßnahmen genauer überwacht werden, um einer unverhältnismäßigen Einmischung in innere Angelegenheiten des Zielstaates vorzubeugen, so die Forderung vieler Entwicklungs-und Schwellenländer. Trotz dieser Konflikte schreitet die Institutionalisierung der R2P voran, der Streit wird gewissermaßen eingehegt. Die R2P ist in den Vereinten Nationen institutionell verankert, in Form des Büros der beiden Sonderberater für Völkermordprävention und R2P, in den jährlichen interaktiven Dialogen der Generalversammlung zur R2P und durch den Human Rights Up Front-Aktionsplan. Der Stand der regionalen und nationalen Verankerung der Norm ist qualitativ wie quantitativ sehr ungleich. Doch auch hier schreitet die Institutionalisierung voran, durch die Schaffung von R2P-oder Völkermordpräventions-Focal Points sowie im Rahmen zwischenstaatlicher Präventionsnetzwerke, wie dem Latin American Network for Genocide and Mass Atrocity Prevention oder der Global Action against Mass Atrocity Crimes (GAAMAC). In der Analyse wird deutlich, dass sich die Umstrittenheit der R2P vorrangig auf Fragen der richtigen Anwendung und Umsetzung konzentriert. Die allgemeine Gültigkeit der in ihr enthaltenen Sollensanforderung wird nicht offen in Frage gestellt: Alle Staaten haben anerkannt, dass der Schutz ihrer Bevölkerung vor Völkermord, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und ethnischen Säuberungen Voraussetzung für die legitime Ausübung von Souveränität ist. Auch findet grundsätzlich Zustimmung, dass die internationale Gemeinschaft in extremen Fällen eine Verantwortung hat einzugreifen. Da die Schwellen für einen Übergang dieser Verantwortung aber unterschiedlich interpretiert werden, kommt die reaktive Komponente der R2P kaum zur Anwendung, obwohl diese dritte Säule der R2P nicht nur auf den Einsatz militärischer Gewalt beschränkt ist, welcher gemäß der R2P nur in Extremfällen und bei ausreichenden Erfolgsaussichten in Betracht gezogen werden sollte. Auch die Verhängung von Sanktionen oder eine Einbeziehung des Internationalen Strafgerichtshofs bleiben sehr umstritten. Dies zeigt sich etwa am Beispiel des syrischen Bürgerkriegs. Solange aus den hart ausgefochtenen Konflikten über die Umsetzung der Norm aber Initiativen für deren Weiterentwicklung entstehen, scheint die III Gefahr einer Degeneration der R2P zur Bedeutungslosigkeit nicht gegeben. Aus dem Streit über die Mandatsüberschreitung der NATO bei der Libyen-Intervention 2011 entwickelte Brasilien die Idee einer Responsibility while Protecting und China das Responsible Protection-Konzept. Beide fordern damit mehr Transparenz und eine Rechenschaftspflicht von mit Sicherheitsratsmandat Intervenierenden ein. Angesichts der Blockade des Sicherheitsrats im Syrienkonflikt lebten kurz darauf verschiedene Initiativen zur Beschränkung des Vetos der fünf ständigen Sicherheitsratsmitglieder wieder auf. Zu guter Letzt reagierten einige kleinere Staaten sowie Nichtregierungsorganisationen auf die verhärteten Fronten in der Debatte über die richtige Reaktion auf schwere Gräueltaten mit neuen Präventionsinitiativen, wie den oben genannten Netzwerken. Problematisch für die Norm könnte allerdings werden, dass a) die reaktive Komponente selten zur Anwendung kommt und b) einige der genannten Initiativen inzwischen darauf verzichten, den Begriff R2P zu verwenden und sich stattdessen auf Völkermord-und Gräueltatenprävention konzentrieren. Sollte der Begriff R2P als Konsequenz dessen aus dem Diskurs verschwinden, würde dies die Norm schwächen: Prävention ist ein Schwerpunkt der R2P. Die Norm beinhaltet aber den ebenso wichtigen Aspekt der friedlichen oder auch zwangsbewehrten Reaktion auf Gräueltaten. Vor diesem Hintergrund ergeben sich mehrere Pfade für eine Weiterentwicklung der Schutzverantwortung auf internationaler Ebene. Im Bereich Frühwarnung und der konkreten Umsetzung der Prävention von Gräueltaten sollten die Vereinten Nationen sowie die mit ihr kooperierenden zivilgesellschaftlichen Akteure weiterhin gefördert werden. Gleichzeitig müssen auch jene, meist westlichen, Staaten, die das Schutzregime am stärksten befürworten mit gutem Vorbild voran gehen und auf nationaler und regionaler Ebene Mechanismen institutionalisieren, die die Gefahr für Gräueltaten senken sollen. Über institutionelle Reformen sollte zudem aktiv auf die Souveränitätsbedenken vieler Staaten des Südens eingegangen werden. Die von Brasilien eingebrachte Responsibility while Protecting bietet hier gute Anknüpfpunkte und könnte in einen Reformvorschlag für die Arbeitsmethoden des Sicherheitsrates übersetzt werden. In jedem Sinne muss der Dialog mit den Skeptikern gesucht werden, die die Agenda der R2P häufig als Oktroyierung westlicher Werte wahrnehmen. Daher sollte auch die Zivilgesellschaft in ihrem Marketing für die Norm stärker auf die Befürchtungen der Skeptiker eingehen, anstatt den Eindruck zu erwecken, R2P sei international bereits fest verankert, ungeachtet der Haltung der Skeptiker. Schließlich darf nicht vergessen werden, dass sich die Mehrheit der Staaten noch nie zur R2P geäußert hat. Die R2P sollte daher zu guter Letzt offiziell auf die Agenda der Generalversammlung aufgenommen werden, um einen Dialog zwischen Befürwortern und Gegnern der Schutzverantwortung zu initiieren. Ziel dieser Bemühungen muss es sein, einen internationalen Konsens über das gesamte Normenbündel und damit auch über die dritte Säule der R2P zu finden. Den Aspekt der Reaktion, inklusive der Nutzung militärischer Mittel, auszublenden, würde einem der Kernprinzipien der R2P zuwiderlaufen, nämlich dem Anspruch der Opfer schwerster Menschenrechtsverletzungen auf Schutz vor schweren Gräueltaten.
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