Aus "Erinnerungen an England" (1897-1912)

Rudolf Kassner
1949
527 derte hindurch. Mir fiel auf, daß er nie berühmt sagte, sondern distinguished, was mir sehr englisch vorkam. So redete er vom Astronomen Darwin, dem Sohn des großen Naturforschers, als distinguished son of a distinguished father. Berühmt war das College, das genügte, vielleicht auch noch Newton. Nach einigen Runden der Portweinflasche verabschiedeten wir uns vom Master, und es ging wiederum ein Stockwerk höher ans Rauchen. Dazu war vielleicht nur heute das Studierzimmer eines Professors des
more » ... Griechischen auserkoren, ich entsinne mich nicht mehr seines Namens, weiß nur, daß er, die Pfeife im Mund, den um sich Versammelten auseinandersetzte, wie er ein Romanfragment aus dem Nachlaß von Dickens fortzusetzen und zu vollenden gedächte. Das ist in wenigen Worten das Wichtigste von dem, was ich in Cambridge erlebte. Als ich bald darauf im November, von England scheidend, von Folkestone aus über den Kanal zur holländischen Küste hin fuhr, lag die Nacht auf dem Meer, warm und feucht, zahllose Lichter flimmerten von beiden Küsten her, von den Schiffen, die das Wasser durchschnitten, den Fischerbooten; ich blieb wie von einem Zauber eingefangen die ganze Nacht über auf Deck, dachte gar nicht daran, in meine Kabine hinunterzusteigen. Schon in London am Bahnhof war mir eine Menge wilder Gestalten aufgefallen, zu den Waggons hin stampfend, Gepäck aller Art auf den Schultern, braune Blechkoffer, Säcke, Körbe, mit rauhen Stimmen sich untereinander verständigend. Es waren Bulgaren, aus Fabriken in England da und dort kommend, zur Musterung in die Heimat eilend, wo es Krieg gab. Ich höre jetzt ihre Stimmen unten im Schiffsraum. Auch sie wachen gleich mir, am Boden hingestreckt, an ihre Koffer oder Kleiderbinkel gelehnt. Etwas verbindet mich mit ihnen, das fühle ich. Und ich fühle ferner, ich weiß es, daß ich den Weg, den ich jetzt nehme in dieser warmen, zaubervollen Nacht, lange nicht, vielleicht niemals mehr zurückkehren werde, wie es bis heute wenigstens, da ich es niederschreibe, in der Tat geschehen ist. Was für mich damals mancherlei bedeutete, da ich zuweilen mit dem Gedanken gespielt hatte, mich in England für lange Zeit niederzulassen, so vertraut und lieb war mir das Land geworden. Ich war Oesterreicher des alten Kaiserreiches, fühlte mich als solchen trotz meiner Bewunderung und Liebe für England, der Krieg im Balkan ging mein Vaterland mehr an als jedes andere von denen, die nicht in den Krieg verwickelt waren, galt letztlich seinem Ende, seiner Zerstörung. So, wie ich jetzt dastand, in die Ferne blickend und voll Ahnung, fuhr ich einer Wirrnis entgegen, in viel zuviel Geschichte auf einmal, in Widriges, das auf all den Glanz, Reichtum, die Sorglosigkeit und den Leichtsinn der letzten
doi:10.5169/seals-759543 fatcat:devhdwzaifejpnzej76tgrd6je