"Historisch-kritische" Evangelieninterpretation und "formgeschichtliche" Überlieferungskritik : ökumenische Chance oder Rückfall in die Zeit der Aufklärung? 2. Teil
Hans-Joachim Schulz
2015
Dem ökumenischen Anspruch einer sich immer mehr verabsolutierenden »historisch kritischen« Schriftauslegung in der katholischen und evangelischen Neutestamentlichen Exegese ist im Namen der Ökumene Widerspruch angesagt. Katholischerseits meldete diesen in letzter Zeit besonders nachdrücklich und überzeu gend Kardinal Ratzinger an. Auf dem 1988 vom lutherischen Center on Religion and Society in New York veranstalteten Symposion stellte er in seiner »Erasmus-Lecture« mit dem Titel
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... g im Widerstreit. Zur Frage nach Grundlagen und Weg der Exegese heute«* 1 die Diagnose, »daß nun auch im katholischen Bereich der Hiatus zwischen Exegese und Dogma total geworden ist«. »Das Dogma, dem der Boden der Schrift entzogen worden ist, trägt nicht mehr. Die Bibel, die sich vom Dogma gelöst hat, ist zu einem Dokument der Vergangenheit geworden und gehört damit selbst der Vergan genheit an« (21). Demgegenüber fordert Ratzinger zur Selbstkritik der »historischen Me thode« auf: »daß sie ihre eigenen Ergebnisse diachronisch liest und damit von dem An schein einer quasi-naturwissenschaftlichen Gewißheit abrückt, mit der bisher ihre Inter pretationen weithin vorgetragen werden« (22). Ratzinger selbst initiiert die diachronische Analyse der Methode, indem er -die Kritik jüngster Forschungen im evangelischen Raum aufnehmend -als sprechendes Beispiel für eine solche Analyse das Zeitgebun den-Zufällige gerade in den mit so überzeitlichem Geltungsanspruch vertretenen Pro grammen der »Formgeschichte« und der »existentialen Hermeneutik« nachweist. Die Auswirkungen von Positionen der »historisch-kritischen Methode«, die das katho lische (und orthodoxe) Überlieferungsverständnis untergraben, hält der Kardinal für so alarmierend, daß er sie sogar in der Einführung zu seinem Grundatzreferat »Vom Wesen des Priestertums« vor der Römischen Bischofssynode 1990 beschwor2. Die nachkonziliare Krise des katholischen Priesterbildes habe ihren innertheologischen Grund nicht zuletzt darin, daß die alten reformatorischen Argumente gegen das katholische Priester * Der zweite Teil dieses Beitrags folgt in Heft 4 (1991). 1 J. Ratzinger, Schriftauslegung im Widerstreit. Zur Frage nach Grundlagen und Weg der Exegese heute, in: Ders. (Hrsg.), Schriftauslegung im Widerstreit (QuaestDisp 117), Freiburg 1989, 7-13; 15-44. 2 L'Osservatore Romano. Wochenausgabe in deutscher Sprache, Nr. 45, vom 9.11.1990, 7-9. 3 Nachhaltige Kritik an Sprachgebrauch und herrschender Anwendung »der historisch-kritischen Methode« übten vor allem die beiden Tübinger Exegeten M. Hengel (Historische Methoden und theologische Auslegung des Neuen Testaments. Thesen: 1. »Zur Kritik der historisch-kritischen Methode«: KuD 19, 1973,85-90: 8 5 f.) und P. Stuhlmacher (Thesen zur Methodologie gegenwärtiger Exegese: ZNW 63, 1972, 18-26). Der Begriff ist anfechtbar, da er keine wirkliche (einheitliche) Methode bezeichnet und die ohnehin strikt anzu wendenden historischen Kriterien entweder emphatisch betont oder mit Vorentscheidungen im Sinne der Bibel kritik des 19. Jahrhunderts befrachtet: Hengel, Thesen 1.1.1-1.1.4; sowie 1.2.: »Die ständige Berufung auf > die historisch-kritische Methode< in der theologischen Diskussion der vergangenen 70 Jahre hat letztlich psycholo gische und dogmatische Gründe«, und 1.2.3: »Die Grenzen und Konsequenzen dieser auf einen dogmatischen Positivismus reduzierten >historisch-kritischen Methode< sind zu wenig kritisch bedacht worden.« 4 N. Nissiotis, Die Einheit von Schrift und Tradition von einem östlich-orthodoxen Standpunkt aus: Ökum. Rundschau 14 (1965) 271-292; 291.
doi:10.5282/mthz/3567
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